„Gender Studies trifft Jineolojî“

Die Fachtagung „Gender Studies trifft Jineolojî II – Natur, Körper und Geschlecht: eine Re-Aktualisierung“ hat unter großer internationaler Beteiligung im Onlineformat stattgefunden.

Zum zweiten Mal fand am 18. Februar im Onlineformat die Fachtagung „Gender Studies trifft Jineolojî“ mit bis zu hundert Zuschauer:innen und Referent:innen aus weiten Teilen der Welt – der Dominikanischen Republik, Mexiko, Italien, Frankreich, Belgien, Deutschland und Kurdistan – in Deutsch, Englisch und teilweise in Spanisch statt.

Die Tagung beruhte erneut auf einer Zusammenarbeit von dem Netzwerk kurdischer Akademiker:innen (Kurd Akad e.V.), dem Marie Jahoda Center for International Gender Studies der Ruhr-Universität Bochum und der Hochschule Emden/Leer und wurde diesmal von Dr. Muriel González Athenas (Ruhr-Universität Bochum), Dr. Mechthild Exo (Hochschule Emden/Leer), Dersim Dağdeviren als Ko-Vorsitzender des Netzwerkes kurdischer Akademiker:innen e.V., Münevver Azizoğlu-Bazan (Doktorandin, Universität Bremen) und Dr. Christine Löw (Georg-August-Universität Göttingen) koordiniert.

Natur, Körper und Geschlecht: eine Re-Aktualisierung“

Die um 10 Uhr morgens beginnende und sich über den gesamten Tag erstreckende Konferenz „Gender Studies trifft Jineolojî II – Natur, Körper und Geschlecht: eine Re-Aktualisierung“ teilte sich in drei thematische Blöcke auf, in denen jeweils eine Vertreterin aus der Perspektive der Jineolojî und ein bis zwei weitere Referentinnen aus der Perspektive feministischer Wissenschaft ihre Vorträge vorstellten und anschließend diskutierten.

Dersim Dağdeviren von Kurd Akad e.V. eröffnete die Konferenz. Das Grußwort von Beate Miguel vom Marie Jahoda Center for International Gender Studies musste leider krankheitsbedingt entfallen. Ein weiteres Grußwort, vom Jineolojî Komitee Deutschland, wurde mit Worten von Abdullah Öcalan eingeleitet, der bekanntlich den Aufbau einer Wissenschaft namens Jineolojî vorgeschlagen hatte: „Es bedarf dringend einer intensiven Diskussion über allgemeine theoretische Perspektiven und lokal spezifische Taktiken der demokratischen und ökologischen Gesellschaft und der Genderbefreiung, die auch die zuvor genannten Bewegungen [Feminismus, Weltsozialforen, klassische Linke etc.] keineswegs ausschließt.“ Die Vertreter:in des Jineolojî-Komitees erklärte, dass die Jineolojî den Feminismus und die Frauenkämpfe weltweit als ihr Erbe ansieht „und aus diesem Grund sehen wir es als Notwendigkeit und Schatz an, uns miteinander auszutauschen, unsere Theorien und unser Denken kennenzulernen, abzuwägen und zu schauen, welche Theorien, welches Denken uns alle auf dem Weg zur Freiheit weiterbringt“.

Jineolojî: Aus den Bergen Kurdistans zur weltweiten Frauenbefreiung

Die Jineolojî wurde in den freien Bergen Kurdistans entwickelt und fand ihren Weg von da aus in die verschiedenen Teile Kurdistans und in die ganze Welt. Diese Perspektive wird immer weitergetragen und weiterentwickelt – nun auch in diesen Online-Raum der Tagung. Mit diesen Worten wurde die Tagung begrüßt.

Ein einleitender Vortrag von Muriel Athenas Gonzales erläuterte die thematische Ausrichtung dieser zweiten Tagung „Gender Studies meet Jineolojî“ auf „Natur, Materialität, Körper – eine Re-Aktualisierung“. Das Tagungsthema greift den sogenannten „material turn“ in westlichen Feminismen auf. Es findet eine erneute Auseinandersetzung mit materiellen Aspekten von Geschlechtern, Körpern und Natur statt wie auch mit Begriffen von Ausbeutung, Herrschaft und Kapitalismus. Gegenwärtig werden feministisch-ökologische Überlegungen wieder stärker diskutiert. Aus dem Globalen Süden kommen ganz eigene Zugänge zum Thema. So auch aus der kurdischen (Frauen-)Bewegung heraus eine neue Form von Wissenschaft, die Jineolojî, die nachzeichnet, wie in den 5.000 Jahren Geschichte des Patriarchats eine freie, gemeinschaftliche und in der Natur eingebundene Lebensweise verloren gegangen ist. Die Jineolojî begreift die vielfachen Trennungen, in die die Welt und das Leben zerlegt werden, um diese wissenschaftlich-analytisch erfassen und kontrollieren zu können, als Grundlage für bestehende Zerstörungen und Krisen. Die Tagung hatte gemäß Ankündigungstext zum Ziel, einen Raum zu schaffen, um „Überlegungen zu den Verbindungen zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Umweltzerstörung, zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen Frauen und Natur, zwischen Geschlechterverhältnissen und Ökologie aus der Perspektive von Gender Studies / Feministischer Theorie und der Perspektive von Jineolojî zu verstehen, zu diskutieren und zu verbinden“.

Wissenschaft aus dekolonialer und feministischer Perspektive

Der thematische Schwerpunkt des ersten inhaltlichen Blocks lag auf den notwendigen Veränderungen von Wissenschaft vor dem Hintergrund dekolonialer, feministischer und jineolojischer Kritik, mit dem Titel „Wissenschaft neu konstituieren durch dekoloniale Praxis“. Geladene Refentinnen waren Azize Aslan und Yuderkys Espinosa Miñoso. Azize Aslan brachte den Zuschauer:innen die Entstehungsgeschichte der Jineolojî und ihre zentralen Elemente näher. Sie beschrieb, wie die Jineolojî eine Suche nach Freiheit ist, und Frausein als eine Identität hervorbringt, die alle ethnischen und sprachlichen Grenzen zerstören kann. Außerdem stellte sie den Aspekt der gemeinsamen Befreiung aller Geschlechter und Sexualitäten nochmals heraus: „Wenn wir in der Jineolojî Frauen oder Kampf sagen, meinen wir auch die anderen Kämpfe gegen das Patriarchat. Wenn wir gegen das Patriarchat kämpfen, dürfen wir uns nicht auf Identitäten berufen, sondern auf unsere Gemeinsamkeiten – nicht auf unsere Unterschiede.“

Kritik der kolonialen feministischen Vernunft“

Yuderkis Espinosa Miñoso stellte ihr Konzept der kolonialen feministischen Vernunft vor, eine Grundannahme, die den Feminismus westlicher, weißer Feministinnen durchzieht und ein Bild der Frau hervorgebracht hat, welche sich immer in einem Zustand der Unterwerfung und Unterdrückung gegenüber dem Mann befinde und dabei ontologische Prozesse der Rassifizierung und Ausbeutung ausblende. Sie sprach sich dafür aus, einen Feminismus zu entwickeln, welcher sich von den europäischen Theorien entfernt und stattdessen Theorien und Erfahrungen von Frauen aus Kontexten, die von kolonial-rassistischer Unterdrückung durchzogen sind, einzubeziehen. Für eine dekoloniale Wissenschaft warf sie die grundlegende Frage auf, wie wir unsere eigenen Erfahrungen und insbesondere Erfahrungen aus den sozialen Bewegungen und Frauenbewegungen des Globalen Südens in Wissenschaft und Forschung hineinbekommen.

Im Diskussionsteil erklärten beide Referentinnen, dass es Aktivitäten auf sehr vielen Ebenen braucht, um Wissenschaft grundlegend zu verändern: innerhalb und außerhalb der bestehenden akademischen Institutionen, als Teil unserer aktivistischen Praktiken mit Reden, Publikationen und Veranstaltungen, wie auch in eigenen Akademien und Forschungszentren, die unter anderem in Rojava/Nordostsyrien entstanden sind.

Beide Referent:innen gingen in der Diskussion auch auf die Rolle von NGOs als Ventil für Kapitalismus und staatliche Politik ein.

Körper, Materialität und Natur“

Nach einer verkürzten Mittagspause ging es im zweiten Block um „Körper, Materialität und Natur“. Die Referent:innen Dr. Lisa Krall, Elif Berk, Klee und Luca beleuchteten drei unterschiedliche Annäherungen an Körper, Materialität und Natur. Lisa Krall eröffnete eine feministische Betrachtung der naturwissenschaftlichen Forschung im Bereich der Epigenetik, welche Prozesse von Aktivierung und Veränderungen von Zellen erforscht, und der Umweltepigenetik, welche untersucht, wie sich äußere Umwelteinflüsse auf die Genaktivität auswirken. Sie plädierte dabei für einen geschlechter- und machtsensiblen Umgang mit wissenschaftlichen Forschungsprozessen und -ergebnissen.

Elif Berk vom Jineolojî Magazin erläutert in ihrem Vortrag „Vom Krieg der Begriffe zum Leben selbst“ die grundlegende Herangehensweise der Jineolojî an Körper, Sexualität und Geschlecht: „Um über den konzeptionellen und theoretischen Rahmen des patriarchalen, kapitalistischen Machtsystems hinauszugehen, ist es wichtig zu analysieren, wie die Bedeutungen, die Körper, Sexualität und Gender zugeschrieben werden, in Machtideologien integriert werden. Dafür müssen wir, anstatt die Realität nach den Konzepten, die wir auf einer abstrakten diskursiven Praxis produzieren, einzuordnen, den Charakter der Politiken, die um Sexualität und Körper entwickelt werden, diskutieren.“

Körper und Sexualität werden patriarchal angegriffen“

Dafür ging sie auf die Bedeutung der Konzepte Körper und Sexualität und wie diese patriarchal angegriffen werden ein. Sie erklärte die Existenz von Dualität als grundlegendes Muster in der Entstehung des Universums: Das Problem liege nicht in der Dualität, sondern in der Hierarchisierung, welche dieser aufgezwungen wird. Unser Geschlechterverständnis unterliegt Machtstrukturen, die wir verstehen müssen, um das System verändern zu können. Elif Berk verdeutlichte sehr anschaulich, wie es angesichts der liberalen Machtverhältnisse fast unmöglich ist, einen freien Willen in Bezug auf Körper und Sexualität zu entwickeln. Die Entwicklung eines freien Willens kann nicht individuell gedacht werden, sondern ist grundlegend verknüpft mit der Entwicklung einer moralisch-politischen Gesellschaft.

Aktivistische Annäherung an nicht binäres Geschlechterverhältnis

Klee und Luca stellten ihr Forschungsprojekt vor: eine aktivistische Annäherung an ein nicht binäres Geschlechterverständnis, woran sie in Absprache mit dem lokalen Jineolojî-Komitee arbeiten wollen. Schlussendlich soll die Forschung dabei unterstützen, Kämpfe von binären und Trans-Menschen wieder breiter und gesamtgesellschaftlicher zu führen, wofür die Entwicklung eines kollektiven Selbstbewusstseins (durch den Blick in die Geschichte und kollektive Persönlichkeitsentwicklung) einen notwendigen Schritt darstellt. Gleichzeitig wollen sie die Wirkung von Neoliberalismus und Kapitalismus auf nichtbinäre Kämpfe verstehen und somit Identitätspolitik vorbeugen.

Ökologie und Bevölkerungspolitik“

Im dritten und abschließenden Block wurde „Ökologie und Bevölkerungspolitiken – Wege gehen und Fallstricke vermeiden" mit Standpunkten von PD Dr. Susanne Schultz, Prof. Dr. Daniela Danna und Sarah Marcha vom Jineolojî Zentrum Brüssel diskutiert. Susanne Schultz wendete sich in ihrem Beitrag gegen die These „Weniger Klimawandel durch weniger Menschen“ und warnte vor den gefährlichen Geistern des Malthusianismus, einer Theorie, die auf den britischen Ökonom Thomas R. Malthus (1798) zurückgeht und behauptet, ein unkontrolliertes Gebären führe notwendigerweise zu einem Ungleichgewicht zwischen Ressourcen und Bevölkerung. Die Kategorie „Bevölkerung“ als politisch regulierbare Variable dürfe nicht belebt werden. Dies sei mit einer langen Geschichte der Hierarchisierung von Leben und mit einer Geschichte repressiver Programme des Zugriffs auf die „Reproduktion“ der „Anderen“ verwickelt. Über dieses zentrale Argument entstand mit Bezug auf den Vortrag von Daniela Danna aus Italien im weiteren Verlauf eine kontroverse Auseinandersetzung.

Patriarchale Familientraditionen und staatliche Interventionen sind das Problem“

Sarah Marcha stellt in ihrem Vortrag unter anderem heraus, dass es wichtig ist, „die Bevölkerungsproblematik durch Analyse der Wurzeln des Problems zu betrachten. In Wirklichkeit sind die patriarchale Familientradition und die staatlichen Interventionen in die Bevölkerungskontrolle das Problem.” Sie gab zahlreiche Beispiele von patriarchaler und sexistischer staatlicher Politik aus der Geschichte und Gegenwart wie die Inquisition, die Frauen mit Geburts-, Verhütungs- und Heilwissen als Hexen tötete, die Folterexperimente an Sklavinnen und Landarbeiterinnen sowie auch in den KZs der deutschen Faschisten, um gynäkologisches Wissen zu gewinnen, als Bestandteil kolonialer Politik und insbesondere auch gegen Kurdinnen. Sie sprach von einem demografischen Krieg, der gegen die kurdische Existenz ausgeübt wird. „Die Jineolojî hat gegenüber den Angriffen des Systems auf Frauen und Unterdrückte Lösungsvorschläge bereitgestellt. Wir wissen, dass das Problem des Wachstums der Weltbevölkerung mit Herrschaft, Staat und patriarchaler Macht ebenso verbunden ist wie mit Profit, dem Kapital und dem Monopol.“

Die Demokratisierung der Familie und die Rolle der Frau beschreibt Sarah Marcha als zentrale Bedingung für einen Wandel. „Die Frauen müssen sich von der Männerherrschaft befreien und wieder zum Zentrum der Gesellschaft werden. Sie dürfen sich niemals in den Dienst irgendeiner Form des Kolonialismus stellen. Sie müssen mit ihrem Land, ihrer Kultur und ihrem Volk verbunden sein.“ Dies beschreibt den Aufbau eines freien gemeinschaftlichen Zusammenlebens (ku. Hevjiyana Azad) als grundlegend, um Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu gestalten, die Freiheit, Schönheit und ein sinnvolles Leben in ökologischer Balance ermöglichen.

Die Aufzeichnung der Tagung wird demnächst auf der Internetseite von Kurd Akad veröffentlicht.