Die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt stellt einen Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt dar. Ihre Umsetzung ist jedoch auch in Deutschland mehr als mangelhaft, insbesondere was weibliche Asylsuchende betrifft. Dies geht aus einer Untersuchung von PRO ASYL, den Flüchtlingsräten und dem Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen hervor.
Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Bundesrepublik, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung ihrer Diskriminierung zu leisten sowie ihre Gleichstellung und ihre Rechte zu fördern. Aber insbesondere auf die spezifischen Fluchtgründe und die spezifische Gefährdungssituation von geflüchteten Frauen und Mädchen wird kaum eingegangen. Dies betrifft die Erkennung der Vulnerabilität durch die Behörden, die Unterbringung aber auch die psychosoziale Beratung. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Wissenschaftler:innen und NGO-Vertreter:innen an das Expertengremium des Europarats (GREVIO), das die Einhaltung der Istanbul-Konvention überwacht, übergeben haben. Die Istanbul-Konvention ist in Deutschland bindend wie ein Bundesgesetz. Das bedeutet die Nichteinhaltung des Abkommens stellt eine Gesetzesverletzung dar.
Besonders verletzliche Personen fallen immer wieder durchs Raster
Diese de facto Gesetzesverletzung gegenüber geflüchteten Frauen und Mädchen beginnt schon bei der Ankunft, heißt es in einer Presseerklärung zum Bericht. Besonders gefährdete Schutzsuchende – sogenannte vulnerable Personen – werden häufig nicht erkannt. Damit wird diesen eine angemessene psychosoziale und medizinische Versorgung vorenthalten. Durch diesen Mangel an Unterstützung drohe ihnen, dass der nötige asylrechtliche Schutz versagt bleibe. Das liegt unter anderem daran, dass Traumatisierung, Einschüchterung und mangelnde Unterstützung dazu führen, dass die für einen asylrechtlichen Status notwendigen Aussagen im Verfahren nicht gemacht werden. Andrea Kothen von PRO ASYL erklärt: „Wir brauchen die bundesweite Einführung eines transparenten und flächendeckenden Identifizierungsverfahrens vulnerabler Personen. Nur wenn es hierfür ein einheitliches, verbindliches System gibt, kann in der Folge sichergestellt werden, dass die betroffenen Frauen ihre Rechte wahrnehmen können.“
Vergewaltigungen und Genitalbeschneidung als Fluchtgrund
Dieser Mechanismus schlägt sich auch in den Anerkennungszahlen nieder. Frauen und Mädchen sind in Kriegs- und Krisensituationen besonders gefährdet. Genitalbeschneidung (FGM/C), straffrei bleibende Vergewaltigungen, Zwangsheiraten auch von minderjährigen Frauen, häusliche Gewalt, Entführungen, Vergewaltigungen als Kriegswaffe und weitere. Der Anteil der Fälle, in denen Frauen aufgrund geschlechtsspezifischer Gründe Flüchtlingsschutz erhalten, müsste hoch sein – ist er aber nicht. Daraus schließen die Berichterstatter:innen, dass viele Fälle nicht als solche benannt werden oder eben nicht zur Anerkennung führen.
Patriarchale Gewalt wird im Verfahren immer wieder als „Privatsache“ abgetan
Aber auch die Benennung patriarchaler Gewalt hilft nicht immer bei der Anerkennung. Im Asylverfahren wird patriarchale Gewalt immer wieder durch Entscheider:innen des Bundesamts für Flucht und Migration (BAMF) im Bereich der „privaten Lebensführung“ verortet. Die Ersteller:innen des Berichts fordern, das BAMF müsse hier seine Entscheidungspraxis ändern und Frauen aktiv, trauma- und gendersensibel ermutigen.
„Sammelunterkünfte und Abschiebelager müssen abgeschafft werden“
Die Unterbringung in Sammelunterkünften stellt eines der größten Probleme beim Schutz von Frauen und Mädchen vor patriarchaler Gewalt dar. Die Angst vor Übergriffen durch männliche Bewohner, Security-Personal oder sonstige Angestellte gehöre für viele Frauen zum Alltag – zum Beispiel, weil sie in vielen Unterkünften noch nicht einmal ihr Zimmer abschließen könnten. Fehlende Privatsphäre und die geographische Isolation der Unterkünfte vergrößern diese Gefahr. „Sammelunterkünfte sind konflikt- und gewaltfördernd. Die ANKER-Zentren und ähnliche Einrichtungen gehören deshalb ein für alle Mal abgeschafft“, fordert Simone Eiler vom Bayerischen Flüchtlingsrat.
„Gesundheitsleistungen und Unterstützung werden häufig verwehrt“
Auch die in der Istanbul-Konvention festgelegten umfassenden Gesundheitsleistungen, auf die Frauen Anspruch haben, werden nicht bereitgestellt. Laura Müller vom Flüchtlingsrat Niedersachsen: „In der Praxis bleiben Frauen nötige Gesundheitsleistungen und Unterstützung häufig verwehrt. Dies gilt besonders für den Aufenthalt in der Erstaufnahme und die Inanspruchnahme von psychosozialer Versorgung und Therapie. Auch Dolmetscher*innen gibt es im medizinischen Bereich immer noch nicht in ausreichendem Maße.“
„Asyl- und Aufenthaltsrecht steht an vielen Stellen im Widerspruch zum Gewaltschutz“
Prof. Dr. Sabine Hess vom Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen zieht das Fazit der Untersuchung: „Insgesamt wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht.“ Die Berichterstatter:innen fordern. „Die Bundesregierung sollte sich auch dafür einsetzen, dass ‚ein Europa frei von Gewalt gegen Frauen‘, wie es in der Präambel der Konvention als Ziel formuliert ist, Realität wird. Dies erscheint nicht möglich ohne grundlegende Änderungen in der Europäischen Asylpolitik, für die Deutschland eine Mitverantwortung trägt.“