In der westtürkischen Metropole Istanbul hat ein Großaufgebot der Polizei vergeblich versucht, den 20. Feministischen Nachtmarsch zu verhindern. Trotz Veranstaltungsverbot, abgesperrten Straßen, Tränengas und Gummigeschossen kamen tausende Frauen zusammen, um bei der traditionell am Abend des 8. März durchgeführte Demonstration ihre Rechte einzufordern und gegen männliche und staatliche Gewalt, Diskriminierung, Krieg und die Feminisierung der Armut zu protestieren.
In diesem Jahr stand der Istanbuler Nachtmarsch unter dem Motto „Diese Rebellion wird nicht enden, ehe die feministische Welt etabliert ist.“ Für den eigentlichen Treffpunkt hatte das Feministische Kollektiv als Organisatorin die Sıraselviler Caddesi am symbolträchtigen Taksim-Platz in Beyoğlu ausgewählt. Da die Polizei bereits Stunden vor Beginn der Demonstration den Platz weiträumig absperrte und auch die Zugänge in den Nebenstraßen mit Panzerwagen und Wasserwerfern gesichert wurden, verteilten sich die Frauen auf verschiedene Punkte im angrenzenden Viertel Cihangir. Am Montag war der Nachtmarsch vom Gouverneur verboten worden. Zur Begründung wurde der Schutz von Recht und Freiheit und die Prävention von Kriminalität genannt.
Eine überforderte Polizei
Die Polizei setzte vereinzelt Tränengas und Gummigeschosse ein, drängte die Frauen in Seitenstraßen zusammen und versuchte sie daran zu hindern, zu den anderen zu stoßen. Aber die Frauen zeigten sich unbeeindruckt. Auf Transparenten und Schildern waren die Schlagwörter des feministischen Nachtmarschs zu lesen: „Feministische Rebellion“, „Dieser Widerstand wird nicht enden“, „Jin, Jîyan, Azadî“, „Keine männliche, sondern echte Gerechtigkeit“, „Polizei, verkaufe Simit und lebe ehrenhaft“ und „Die Istanbul-Konvention hält am Leben“. Lautstark wurden die Namen von Frauen gerufen, die von Männern ermordet wurden, um der Opfer von Femizid zu gedenken, und solche jener Vorkämpferinnen von Frauenrechten genannt, die im Gefängnis sitzen: „Aysel Tuğluk – Hier!“. Auf Bildern mit dem Konterfei der kurdischen Politikerin, die trotz schwerer Alzheimer-Demenz nicht aus der Haft entlassen wird, stand: „Aysel und alle anderen kranken politischen Gefangenen sind unsere Würde.“ Andere Parolen, die die bunt gekleideten Frauen in Begleitung von Trillerpfeifen-Klängen riefen, waren: „Auch nachts verlassen wir die Straßen und Plätze nicht“, „Wenn Frauen frei wären würde sich die Welt bewegen“ und „Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht“.
Manifest gegen Staat, Patriarchat, Kapitalismus
Am Ende wurde die abgesperrte Sıraselviler Caddesi von den Frauen „entriegelt“. Öffnet die Barrikaden, riefen die Frauen der Polizei entgegen, bevor die Absperrungen überrannt wurden. Von dort aus wurde der feministische Nachtmarsch bis vor das Ispark-Gelände durchgeführt. In einer abschließenden Erklärung, die sowohl auf Türkisch als auch Kurdisch verlesen wurde, hieß es: „Vor 20 Jahren kam eine Gruppe von Feministinnen in der Mis Sokak am Taksim zusammen und fragte: ‚Ist es ein Zufall, dass die Staatsoberhäupter, die den Krieg vom Zaun gebrochen haben, alle Männer sind?‘, bevor der erste Feministische Nachtmarsch Istanbuls begann. Heute Nacht und damit zwei Jahrzehnte später stehen Frauen erneut im Schatten des Krieges und der Armut, für die Männer verantwortlich sind. Deshalb sagen wir: Diese Rebellion wird nicht enden, ohne eine feministische Welt errichtet zu haben.
Unser Anspruch ist nicht, diesen Tag lediglich zu feiern oder die Diskriminierung von Frauen abzuschaffen oder für Gleichberechtigung einzutreten. Unser Anspruch ist es, diese Welt zu verändern. Bis wir eine feministische Welt errichten, werden die Rebellion und der Kampf nicht von diesen Straßen weichen. Die Angriffe auf die Istanbul-Konvention und das Frauenschutzgesetz 6284 ebnen den Weg für Femizide, männliche Gewalt und Morde an trans Menschen. Wir ertragen es nicht, auch nur eine weitere Person an die gemeinsamen Angriffe von Vater Staat und Patriarchat zu verlieren.
Da man glaubt, dass unsere Existenz von der Familie abhängt, sagen wir: ‚Wir sind keine Familie, wir sind Frauen, wir sind in einer feministischen Rebellion!‘ Auf homophobe, transphobe und hasserfüllte Äußerungen der Regierung gegen LGBTIQ+ lautet unsere Antwort: Solidarität und Widerstand für die Rechte der LGBTIQ+. Wir sagen: ‚Unsere Arbeitskraft gehört uns, wir akzeptieren die Ausbeutung unserer Arbeitskraft nicht‘. Unsere Worte richten sich gegen diejenigen, die von uns erwarten, dass wir Hausarbeiten umsonst erledigen, uns in prekäre und am schlechtesten bezahlte Jobs zwingen und weibliche Arbeitskraft dem Kapital opfern wollen.
Wir leisten weiterhin Widerstand, ob zu Hause, vor Fabriken, in Büros, auf Baustellen und auf Plätzen gegen diejenigen, die uns die ganze Last der Pandemie und der Wirtschaftskrise aufbürden und uns verarmen lassen. Wir akzeptieren nicht die Usurpation unseres Rechts auf Unterhalt, um Männer zu stärken, die sich als ‚Opfer‘ ausgeben. Wir akzeptieren nicht die Inhaftierung von Frauen und Politikerinnen, die gegen das Patriarchat kämpfen, die Schließung von Frauenorganisationen und Frauenberatungsstellen durch Präsidialdekrete oder die Zwangsverwaltung. Wir rebellieren gegen die unzulängliche Finanzierung der Frauenhäuser und Kindergärten, die Minderwertigkeit der ŞÖNIM (staatliche Zentren zur Gewaltprävention und Überwachung), die Zurückweisung von hilfesuchenden Frauen von Polizeirevieren und die Verhängung von zig Jahren Gefängnis, wenn sie töten müssen, um nicht getötet zu werden.
Wir gehorchen denen nicht, die versuchen, unsere Stimmen, Worte und Taten durch Gewalt, Polizei und Justiz zu unterdrücken. Wir fürchten uns nicht. Wir rebellieren weiterhin gegen das Patriarchat, indem wir ‚im Rhythmus springen‘. Wir sagen; Die feministische Rebellion wird nicht enden, bis wir eine gleichberechtigte und freie Welt ohne Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus, Krieg, Besatzung, religiöse Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeitskraft errichten! Es lebe unser feministischer Kampf.“
Mindestens 58 Festnahmen
Nach tosendem Applaus, Hüpfaktionen und Tänzen wurde der diesjährige Nachtmarsch beendet. Laut einer ersten Bilanz des Feministischen Kollektivs ist es allerdings zu mindestens 58 Festnahmen gekommen. Zwanzig der Frauen wurden noch vor ihrer Abfahrt auf die andere Seite des Bosporus im asiatischen Stadtteil Kadiköy abgefangen. 38 weitere Frauen sind in Beşiktaş festgenommen worden. Es wird angenommen, dass es zu weit mehr Festnahmen kam als zunächst bestätigt.