Das Solidaritätskomitee für die Angehörigen von Gefallenen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat den Tod von Raperîn Amed bekannt gegeben. Die langjährige Pionierin der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung, die mit bürgerlichem Namen Delal Azizoğlu hieß, kam den Angaben nach am 17. Juni 2022 bei einem Luftangriff des türkischen Staates in den Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben. Das Komitee erklärt zu ihrem Tod:
„In Kurdistan, das seit einem halben Jahrhundert quer durch seine Regionen Schauplatz eines großen und selbstlosen Widerstands ist, begegnen wir jeden Tag dem Vermächtnis des Widerstands, das uns mutige Gefallene hinterlassen. Die Tage, die wir erleben, fügen der Geschichte unseres Kampfes wichtige Momente hinzu. Die Gestaltenden dieser Momente sind unsere unsterblichen Freundinnen und Freunde – sie wussten, wie Geschichte geschrieben wird. Es sind die Gefallenen, aus denen ein Volk seine Kraft zieht, sich lebendig zu halten. Sie sind Quelle des Lebens und stehen im Zentrum unserer Wertvorstellungen. Dies gilt im Besonderen für die Gefallenen der PKK. Die Realität über die Einreihung von Frauen in die Karawane der Unsterblichen macht diese Wahrheit noch deutlicher. Diesen Gefallenen und ihrer Hingabe verdanken wir diesen umfassenden, von Frauen geführten Widerstand in unserer Geschichte. Ihr Verlust ist Ausdruck großer Opferbereitschaft, des Mutes und des Glaubens. Es ist der realistischste Ausdruck unserer Partei auf der Linie der demokratischen Nation und in der Realität Kurdistans. Es ist der offensichtlichste Beweis dafür, dass die von Rêber Apo hervorgebrachten Ideen nicht nur in Worten bleiben, sondern unter allen Umständen und um jeden Preis für den Sieg in die Praxis umgesetzt werden.
Auf Grundlage dieser Wahrheit gedenken wir mit Respekt und Dankbarkeit unserer Weggefährtin Raperîn, mutige und bedeutende Tochter Ameds und unbeugsame Vorkämpferin der PKK/PAJK-Militanz, die ihr Leben dem Widerstandserbe großer Persönlichkeiten widmete. Wir erinnern in ihrer Person an alle Gefallenen der Revolution und sprechen dem Volk Kurdistans und insbesondere der patriotischen Familie Azizoğlu, sowie allen revolutionären und demokratischen Freundinnen und Freunden unser Beileid aus. Wir erneuern unsere Versprechen, jeden Augenblick unter dem Kommando unserer Gefallenen zu leben, und bringen zum Ausdruck, dass wir ihren Kampf definitiv zum Sieg führen werden.“
In Amed geboren, in Ankara aufgewachsen
Raperîn Amed wurde 1969 als Delal Azizoğlu in Farqîn (tr. Silvan) in der Provinz Amed (Diyarbakir) in einer dem kurdischen Befreiungskampf tief verbundenen Familie geboren. 1977 zog sie mit ihren Eltern nach Ankara, wo sie die Grund- und Mittelschule sowie das Gymnasium besuchte. Aufgrund der Erfahrungen, die sie als Schülerin wegen ihres Vornamens (Delal bedeutet auf Kurdisch „schön“ oder „lieblich“) machte, begegnete sie bereits früh den nationalen Widersprüchen, die sich aus ihrer kurdischen Identität ergaben. „Diese Erfahrungen veranlassten sie, ihre Suche auf der Grundlage des Identitätsbewusstseins zu entwickeln“, schreibt das Gefallenen-Komitee in seinem Nachruf über Raperîn Amed. „Anstatt in Ankara, der Hauptstadt der türkischen Republik, zu bleiben und zu studieren, wandte sie sich Amed, dem Herzen Kurdistans zu - trotz des Drängens ihrer Familie, ihre schulische Ausbildung fortzusetzen. Doch Hevala Raperîn verweigerte sich der Bildung des Systems. Es gelang ihr, ihre Familie dazu zu bewegen, sie als eigensinnige Persönlichkeit zu akzeptieren, die ihre eigenen Entscheidungen traf, die Wahrheiten verteidigte, an die sie glaubte, und die einen freien Geist entfaltete.“
Die Rückkehr in die Heimat bot Raperîn Amed die Gelegenheit, den federführend von der PKK getragenen Befreiungskampf in Kurdistan näher kennenzulernen. Zum Ende des Jahres 1992 schloss sie sich dort den Reihen der PKK an. Erste praktischen Erfahrungen im Guerillawiderstand sammelte sie in Amed, später kämpfte sie in den Medya-Verteidigungsgebieten. Für den kurdischen Befreiungskampf hielt sie sich auch in Europa auf.
1996 besuchte Raperîn Amed erstmals die Parteischule der PKK in der syrischen Hauptstadt Damaskus. „Wie sie selbst zu sagen pflegte, bot sich ihr hier die Chance, dem Widerstand der PKK im Inneren des Zirkels zu begegnen“, so das Komitee. „Zwei Jahre lang hielt sich Raperîn in der Parteischule auf und vertiefte ihr Bewusstsein für die weibliche Identität. In der von Rêber Apo vermittelten Ideologie und Philosophie über Frauenbefreiung fand sie Antworten auf die Widersprüche, die sie in jungen Jahren in Bezug auf die weibliche Identität und ihre Suche nach Freiheit erlebt hatte. Um diese Erkenntnisse auf die Gesellschaft zu übertragen und den Aufbruch einer starken und emanzipierten ‚Frauenführung‘ zu fördern, setzte sie ihre Erfahrungen als erstes in Aleppo in die Praxis um. Sie beteiligte sich an der Arbeit innerhalb der Gesellschaft und ging ihren Weg, der sie zu einer bedeutenden Militanten und Verfechterin der Frauenbefreiungslinie führen sollte.“
Zeit in Europa und Rückkehr in die Berge
In Europa hielt sich Raperîn Amed ab 2000 für etwa fünf Jahre auf. Es war die Zeit, als der inzwischen in die Türkei verschleppte PKK-Begründer Abdullah Öcalan im Schatten von Liquidationsbestrebungen den Paradigmenwechsel der PKK von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer radikaldemokratischen, multiethnischen und politisch offenen Basisbewegung für den gesamten Nahen Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete. Raperîn Amed beteiligte sich aktiv am Wandel und dem Wiederaufbauprozess der PKK. 2005 wandte sie ihren Blick erneut auf die Berge. „Sie ging zurück in den Hort der Freiheit und genoss eine Ausbildungszeit in der PKK-Schmiede. Die Ausbildung, die sie während des Wiederaufbauprozesses der PKK und der PAJK erhielt, verstand sie als einen Prozess des Wiederaufbaus ihrer selbst. Nach dieser Ausbildung beteiligte sie sich an der Arbeit des Komitees für Wissenschaft, Aufklärung und Politik. In den Jahren 2006 und 2007 arbeitete sie in Rojhilat [Ostkurdistan], 2008 wurde sie Teil des Frauenausschusses der PÇDK [Partei für eine politische Lösung in Kurdistan; war in Südkurdistan aktiv und wurde 2014 verboten], in dem sie rund ein Jahr lang aktiv mitwirkte.“
Wirken bei KONGRA-GEL
2011 wurde Raperîn Amed in den Rat des KONGRA-GEL (Volkskongress Kurdistan) gewählt. Die Organisation ist im November 2003 mit dem Ziel gegründet worden, die Rechte der Kurdinnen und Kurden mit den Perspektiven des demokratischen Konföderalismus wirksamer zu vertreten. Dieses Gremium hat die Aufgabe, das gesamte demokratische Leben der kurdischen Gesellschaft zu koordinieren. Das heißt, dass in allen vier Teilen Kurdistans die Exekutivorgane auf allen Ebenen – sowohl die demokratisch-ökologischen Gesellschaftskoordinationen als auch die Freien Bürger:innenkoordinationen bis hin zu den kommunalen Leitungsorganen – in koordinierter Weise zusammenarbeiten. Die Ausführung erfolgt über diese Organe in einer Art Arbeits- und Rollenkoordinierung. Natürlich gehört es auch zu den Aufgaben der Exekutive, die Gesellschaft auf vielfältige Weise zu organisieren und dafür zu sorgen, dass verschiedene Gruppen wie Frauen und Jugendliche oder Werktätige ihre eigene, spezifische Organisierung erhalten und sich in diesem Sinne selbst organisieren, verwalten und ihr Leben in die Hand nehmen. In diesem Zusammenhang gestaltete Raperîn Amed die Organisierung aller Gesellschaftsschichten, die auch die Organisierung der Literatur, Kunst, Politik und aller Bereiche des sozialen Lebens einschließlich der Dörfer in ihren Eigenheiten umfasst, prägend mit. Sie führte Versammlungen durch und setzte Bildungsprogramme um. Ihr Wirken für das Paradigma einer demokratischen Nation umfasste auch Rojava und die Şengal-Region. „Sie war überzeugt davon, dass das Prinzip einer demokratischen Autonomie das optimale System für den Aufbau einer freien Gesellschaft ist. Großes Interesse empfand Hevala Raperîn für das ezidische Volk. Sie galt ohnehin als scharfe Analystin der Verhältnisse und des kulturellen Reichtums in Kurdistan und betrachtete den in Şengal am Funken des apoistischen Widerstands wiederbelebten Freiheitskampf als einen großen Schritt hin zur Befreiung der kurdischen Existenz, die sich im Griff des Völkermords befindet. Hevala Raperîn hatte eine Verbundenheit zu ihrem Volk, die sowohl auf emotionaler als auch geistiger Ebene bestand und sich in jedem Moment ihres Daseins widerspiegelte. In einzigartiger Weise hat sie sich für die Entwicklung der Theorie der demokratischen Moderne eingesetzt. Die Frauen- und Jugendarbeit betrachtete sie stets als ihre vorrangige Aufgabe.“
Führende Vertreterin der Identität der PKK und PAJK
Der Charakter von Raperîn Amed zeichnete sich aus durch einen unbrechbaren Willen zum Widerstand, Selbstlosigkeit, kämpferisches Wirken und ihre Stellung als Vorreiterin, so das PKK-Komitee. „In allen vier Teilen Kurdistans und anderen Regionen mit einem kurdischen Bevölkerungsanteil hinterließ unsere Weggefährtin bei allen, denen sie begegnete, tiefe Spuren, die sich nicht aus der Erinnerung löschen lassen. Aus tiefstem Herzen überzeugt davon, dass die Wahrheit von Rêber Apo unsere Realität ist, lief sie einen Marsch zur Freiheit und steckte mit ihrer Motivation und Moral alle in ihrem Umfeld an. Gleichzeitig ließ sie niemals von ihrem Widerstand gegen das Vorherrschende und reaktionäre, traditionelle Rollen ab. Sie kämpfte in jedem Bereich an vorderster Front, ohne jemals auf individuelle Belange einzugehen. Mit ihrer ideologischen Haltung, einem disziplinierten Lebensstil und ihrem Wirken für den Befreiungskampf spielte Raperîn Amed eine wichtige Rolle in den Arbeiten auf Führungsebene. Ihre Persönlichkeits- beziehungsweise Beschaffenheitsmerkmale, die ihren Grund in einem natürlichen, revolutionären Charakter haben, begleiteten sie ihr gesamtes Dasein als kurdische Militante. Sie widmete sich stets dem Verständnis unserer Bewegung und war eine führende Vertreterin der Identität der PKK und PAJK. Hevala Raperîn war eine wahrhafte Kämpferin. Wir danken ihr für ihren Beitrag bei den Errungenschaften unserer Revolution und versprechen, dass der faschistische und genozidäre türkische Staat samt seinen Kollaborateuren für den Mord an unserer Freundin zur Rechenschaft gezogen wird.“