Seit zwei Jahren sitzt Gültan Kışanak, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Amed (Diyarbakir), in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ vor und fordert bis zu 230 Jahre Haft für die 57-Jährige. Aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Kocaeli hat Gültan Kışanak nun einen Brief verfasst und sich für die Unterstützung bedankt, die ihr seit ihrer Verhaftung entgegengebracht wird. Der Brief wurde bereits vor einigen Wochen geschrieben, hat uns allerdings erst jetzt erreicht.
„Liebe Freundinnen und Freunde,
Zunächst möchte ich mich für die mir entgegengebrachte Freundschaft und Solidarität sehr herzlich bedanken. Seit meiner Verhaftung habt Ihr mich keinen einzigen Tag allein gelassen. Ihr solltet wissen, dass Eure liebenswürdigen und solidarischen Botschaften mir und allen anderen Frauen, die sich in politischer Geiselhaft befinden, Kraft und Moral geben.
Wir befinden uns in einer schwierigen Phase. Die demokratischen Werte – das Erbe der Menschheitsgeschichte - werden missachtet. Eine politische Bewegung, die sechs Millionen Stimmen erhalten hat, soll zerschlagen werden. Durch uns wird versucht, die gesamte Gesellschaft, insbesondere die Frauen, abzuschrecken. Wir sind uns darüber bewusst, aber die Macher der Politik der Geiselnahme wissen nicht, dass wir Frauen nicht von unserem Marsch zur Freiheit abkommen werden. Dafür sind wir schon zu weit.
In diesem Gefängnis sitzen insgesamt zehn ehemalige Bürgermeisterinnen und Parlamentarierinnen ein. Typ-F-Gefängnisse sind so konzipiert, dass nur maximal drei Personen in einer Zelle unterkommen. Auch wir befinden uns zu dritt in einer Zelle.
Uns allen geht es gut. Unser Glaube an die Freiheit, Demokratie und den Frieden ist stärker denn je. Zu wissen, dass wir überall auf der Welt Genossinnen und Genossen haben, die für demokratische Werte kämpfen, ist bedeutend. Ich glaube fest daran, dass wir mit Freundschaft, Solidarität und Widerstand alle Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, bewältigen werden.
Seit dem 26. Oktober 2016 befinde ich mich in Gefangenschaft. Nach meiner Verhaftung wurde die Bevölkerung von Amed ihres Rechtes beraubt, an der Verwaltung der Stadt teilzuhaben. Diese Zwei-Millionen-Stadt wird seit zwei Jahren von einem Treuhänder verwaltet, der nicht gewählt, sondern staatlich eingesetzt wurde.
Gegen mich wird faktisch in einem Abwesenheitsverfahren verhandelt. Bisher habe ich an keinem einzigen Verhandlungstag teilgenommen. Die Anklage stützt sich auf meine politischen Aktivitäten, Presseerklärungen und Reden, die nach dem Rechtsverständnis von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Die nächste Verhandlung findet im Oktober statt. Ich werde versuchen, eine persönliche Teilnahme durchzusetzen.
Diese Botschaft richtet sich an alle Freundinnen und Freunde, deren Briefe und Karten ich erhalten habe. Ich bedanke mich bei jeder und jedem von Euch. Ich teile mit Euch meine Hoffnung, dass wir gemeinsam eine bessere Zukunft und Welt aufbauen werden.“