Der Frauenkampf in Nord- und Ostsyrien hat tiefe Wurzeln. Die Zeitzeugin Sultan Mihemed Izo, Mutter einer Gefallenen und Mitglied im Kantonsrat von Hesekê, erinnerte sich im ANF-Gespräch an die lange Entwicklung des Kampfes, von einigen wenigen Frauen hin zur größten Frauenbewegung weltweit. Die Entwicklung der Frauenbewegung werde daran deutlich, dass sich früher Frauen wegen gesellschaftlicher Zwänge und patriarchaler Traditionen nicht einmal über die Schwelle ihrer Tür getraut hatten, aber heute die Revolution anführen und ihre Rechte erkämpft haben.
„Ich wollte ein Ziel haben“
Sultan Mihemed Izo erinnerte sich, dass sie bereits im Alter von 14 bis 15 Jahren von der Libanesin Sena Haydali1 tief beeindruckt war: „Ich wollte so wie sie ein Ziel verfolgen. Ich wollte, dass mein Leben eine Bedeutung hat. Ich wollte kein gewöhnliches Leben führen, in dem man nur isst und trinkt, sondern ein Leben, das Spuren hinterlässt und die Welt verändert.“
„Statt für sich selbst für andere kämpfen“
An dem Ort, an dem sie lebte, gab es nur wenige Kurd:innen. Ihre Familie war sehr konservativ eingestellt. Ibo erinnerte sich: „Ich war in der Nachbarschaft und bei meinem Vater sehr gefürchtet. Ich wollte eine Aktion wie diese Frau (Sena Haydali) machen, aber meine Familie hat mich daran gehindert. 1985 ging ich für eine Arbeit an einen anderen Ort und dort lernte ich Heval Berivan kennen. Sie erzählte mir von der kurdischen Freiheitsbewegung. Ich dachte: Das ist genau das, was ich will. Anstatt Selbstmord zu begehen, um meinen eigenen Namen zu verewigen, wollte ich für andere Menschen als mich selbst kämpfen, ich wollte für das Neugeborene und das noch zu gebärende Kind leben, für die Frauen, denen die Türen vor der Nase zugeschlagen wurden, für die Frauen, die noch immer um der Sitten und Gebräuche willen ermordet wurden. Mir wurde klar, dass ich für diese Menschen eine viel größere Rolle spielen würde, wenn ich mich an diesem Kampf beteiligte. Ich versprach dort, dass ich zu allem bereit sei, was von mir verlangt würde.
Danach begann ich, mich an der politischen Arbeit zu beteiligen. Wir gingen zu Feldarbeiterinnen und organisierten sie. Zu dieser Zeit war der Staat sehr stark. Aus diesem Grund war meine Mutter ständig in Sorge um mich. Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir eines Tages den heutigen Stand erreichen würden, aber ich liebte es sehr. Politisch zu arbeiten und etwas zu tun, gab meinem Leben einen Sinn.
Nach einer Weile sagte mir meine Familie, dass ich heiraten müsste. Ich habe geheiratet, aber ich habe meinem Mann Bedingungen gestellt; ich habe ihm gesagt, dass ich meine Arbeit fortsetzen werde, dass ich mich nicht zu Hause einschließen würde und nicht nur die Mutter der Kinder sein würde. Damit war er einverstanden. Ich arbeitete alleine als Frau in dieser Region, ich war Krankenpflegerin in einem Krankenhaus und die Ärzte halfen mir. Wir sagten uns, dass wir für die Zukunft unserer Kinder alles tun würden, was nötig ist.
Mit dem Beginn der Revolution im Jahr 2012 verstärkten wir unsere Arbeit noch mehr. Es herrschte Krieg, wir brachten Vorräte und Wasser zu den Kämpfer:innen an der Front. Manchmal versuchten mein Mann und meine Kinder mich davon abzuhalten, aber ich hörte in keiner Weise auf sie. Trotz des Krieges hatten wir keine Angst. Wir wussten, dass sie für uns kämpften. Dank der Bemühungen patriotischer und aufopferungsvoller Menschen wurde die Organisierung allmählich stärker. Zunächst wurde ein Rat gegründet. In der 27-köpfigen Versammlung befanden sich nur sieben Frauen. Dann wurde das ‚Mala Jin‘ gegründet. Viele Frauen begannen dort mitzumachen. Einige von ihnen waren Analphabetinnen und sie waren sehr engagiert. Jeden Abend hielten zwei Frauen Wache, um unseren Ort zu schützen. Wir blieben bis zum Morgen mit einem Gewehr in der Hand wach. Es wurden Frauenkommunen gebildet, eine Stadtverwaltung wurde eingerichtet. Die Selbstverwaltung wurde geschaffen. Heute sind Frauen auf dem Schlachtfeld, in Institutionen, den Zentren und in allen Bereichen der Gesellschaft vertreten. Wir begannen mit sieben Frauen und heute sind es Tausende.
„Frauen führen die Revolution an“
Frauen, denen die Türen verschlossen waren, die sich aufgrund der Sitten und Gebräuche schämten und nicht über die Schwelle ihrer Häuser traten, erheben heute ihre Stimme, nehmen ihre Rechte wahr und führen die Revolution an. Sie geben ein Beispiel für die ganze Welt. Frauen aus aller Welt haben sich an dieser Revolution beteiligt und sind dafür auch gefallen. In Rojava wurde das System des Ko-Vorsitzes auf allen Ebenen eingeführt. Für dieses Modell gibt es in dieser Weise nirgendwo ein Vorbild. In allen Institutionen stehen Frauen an vorderster Front. Frauen sind die Entscheidungsträgerinnen. Es gibt Tausende von Frauen, die an diesem Leben, das auf der Grundlage des apoistischen Paradigmas geschaffen wurde, teilhaben wollen.
„Lest Öcalan“
Ich habe eine Sache, die ich allen Frauen ans Herz legen möchte: Lest die Ideen von Rêber Apo. Versteht, warum Rêber Apo sagt, die Frauen seien so wichtig. Zîlan2, die sich im Lichte der apoistischen Philosophie befreite und Hevala Sema3, die sagte, sie wolle eine Brücke zwischen dem 8. und dem 21. März sein, haben eine große Wirkung hinterlassen. Im Lichte des Kampfes dieser Frauen fordern die Frauen in Suweyda4 heute ihre Freiheit, indem sie die Fotos von Hevrîn Xelef5 hochhalten.“
1 Sena Haydali sprengte sich in den früher 80er Jahren im Libanon in einer israelischen Basis in die Luft. Angaben zu ihrem Alter differieren zwischen 16 und 18 Jahren. Das genaue Datum der Aktion war nicht zu ermitteln.
2 Am 30. Juni 1996 sprengte sich die Guerillakämpferin Zîlan (Zeynep Kınacı) bei einer türkischen Militärparade im nordkurdischen Dersim in die Luft und setzte damit ein Fanal gegen die türkischen Angriffe auf das kurdische Volk. Diese Aktion mobilisierte den Widerstand und erschütterte die türkischen Besatzer in Kurdistan.
3 Sema Yüce verbrannte sich aus Protest gegen das versuchte Attentat auf den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan sowie aus Solidarität mit den Selbstverbrennungsaktionen vieler PKK-Kriegsgefangener in türkischen Gefängnissen selbst. Sie erlag am 17. Juni 1998 ihren Brandverletzungen.
4 Suweyda: Stadt in Südsyrien mit drusischer Mehrheitsbevölkerung. Viele Menschen dort sehen Rojava als ein Beispiel und kämpfen für Autonomie. In Suweyda gibt es ebenfalls eine starke kämpferische Frauenbewegung.
5 Hevrîn Xelef war Generalsekretärin der von einem basisdemokratischen Initiativprinzip geleiteten Zukunftspartei Syriens (Hizbul Suri Mustakbel). Am 12. Oktober 2019 wurde die 34-Jährige im Zuge eines Angriffskriegs der Türkei gemeinsam mit ihrem Fahrer nahe Qamişlo von türkeitreuen Söldnern zu Tode gefoltert.