„Auch wenn es spät war, ich habe mich getraut“

Şirin Sayhan wurde im Kindesalter verheiratet und war lange Jahre jeglicher Form patriarchaler Gewalt ausgesetzt. Sie sagt: „Auch wenn es spät war, diesen Haushalt zu verlassen, war es die richtigste Entscheidung meines Lebens.“

Şirin Sayhan ist mit 14 Jahren von ihrer Familie verheiratet worden, im Alter von 66 Jahren fasste sie Mut und baute sich ein neues Leben auf.

Die Spirale der Gewalt, in die Şirin Sayhan verwickelt wurde, begann damit, dass ihr Vater sie, damit ihr Bruder heiraten konnte, im Alter von 14 Jahren mit einem 27 Jahre alten Mann verheiratete. Vom ersten Moment an wurde ihr Gewalt angetan. Der Frauennachrichtenagentur JinNews gegenüber erzählte sie ihre Geschichte:

„Ich hatte einen großen Bruder. Er war fünf, vielleicht auch sechs Jahre beim Militär. Ich war noch ein Kind. Um meinen Bruder zu verheiraten, haben sie „Berdel“ [Brauttausch] gemacht. Mein Vater sagte, wir geben euch dieses Mädchen und bekommen dafür eines von euch. Es verging nicht viel Zeit, bis ich begriff, dass es bei diesem Handel um meine Person ging. Am folgenden Tag sagte ich meinen Vater: ‚Ich will nicht.‘ Als er mich fragte, ‚Warum, meine Tochter?‘, begann ich zu reden. Plötzlich fühlte ich eine heftige Ohrfeige im Gesicht. Mein Vater begann zu schreien: ‚Was glaubst du, wer du bist?‘ Aber es ging ja schließlich um mich, warum haben sie einfach entschieden, mich zu verheiraten? Für den Mann, den ich heiraten sollte, war ich schon eine erwachsene Frau.“

Weil sie Angst hatte, schwieg Şirin Sayhan und wurde schnell verheiratet. Sie erzählt weiter: „Der Mann, mit dem ich verheiratet wurde, war viel älter und ich noch ein Kind. Jeden Abend weinte ich und sagte: ‚Ich gehe nicht in dein Bett, ich habe Angst.‘ Daraufhin wurde ich am dritten Tag nach meiner Hochzeit wieder nach Hause geschickt. Auf Druck der Verwandtschaft musste ich jedoch wieder zurückkehren.“

Zu Schwerstarbeit gezwungen

Der Mann, mit dem sie verheiratet worden war, ging zum Militär, als sie schwanger war. Während ihrer Schwangerschaft musste sie die schwersten Arbeiten zu verrichten. Als ihr Mann vom Militärdienst zurückkam, hatte sie gerade das Kind geboren, trotzdem wurde sie zwei Tage später aus dem Haus geworfen. Şirin Sayhan erinnert sich: „Ich nahm meine Tochter auf den Arm und ging nach Hause zu meiner Mutter. Als meine Mutter mich in diesem Zustand sah, wollte sie nicht mehr, dass ich wieder zu dem Mann zurückkehre. Da ich keine Milch hatte, war meine Tochter hungrig und hatte Weinanfälle.“

Zweitfrau im Austausch für meine Tochter

Şirin Sayhan beschreibt, dass die Tochter, die sie großgezogen hat, das gleiche Schicksal wie sie ereilte: „Das Kind, das ich mit meinen eigenen Händen aufzog, wurde zu einem jungen Mädchen. Auch sie mochten sie nicht. Ihr Vater sagte ‚Ich werde für sie selbst einen Mann aussuchen.‘ Eines Tages kam einer. Er wollte meine Tochter heiraten und seine eigene Tochter mit meinem Mann verheiraten. Ich und meine Tochter protestierten dagegen, wir machten einen Aufstand. Wir erlebten jedoch schwerste Gewalt und die Hochzeit fand in einem Dorf an einem Berggipfel statt. Sie brachten einen Hodscha, zwangen meine Tochter in ein Auto und nahmen sie mit.“

„Wir haben bei uns gegenseitig Schutz gesucht“

Ihr Ehemann hetzte die Zweitfrau gegen sie auf, erzählt Şirin Sayhan: „Die Folter dieses Mannes endete nie. Er brachte uns Frauen gegeneinander auf. Es schien so, als ob er es genoss, uns gegenseitig zu Feindinnen zu machen. Ich begann für meine Kinder als Saisonarbeiterin zu arbeiten. Wir gingen Haselnüsse und Baumwolle ernten. Dort konnte ich ruhig atmen und ich verstand, dass ich für meine Kinder auf den Beinen bleiben musste. Wenig später wurde die andere Frau ebenfalls misshandelt. Angesichts der Gewalt des Mannes, der uns gegeneinander aufgebracht hatte, verstanden wir, dass es niemanden anderes als uns gegenseitig gab, bei dem wir Schutz suchen konnten.“

„Schließlich zog ich aus“

Schließlich nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und entschied sich fortzugehen. Das sei die richtigste Entscheidung in ihrem ganzen Leben gewesen, sagt sie. Şirin Sayhan hat ihre Kinder zu sich genommen und mit 66 Jahren eine neue Seite in ihrem Leben aufgeschlagen.