weitere 23 Frauen auf verdächtige Weise gestorben
In der Türkei sind im Oktober mindestens 48 Frauen von Männern ermordet worden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP). Der Report der in Istanbul ansässigen Frauenrechtsorganisation enthält Daten über alle polizeilich erfassten oder medial veröffentlichten Femizide. Die tatsächliche Zahl der verübten Frauenmorde dürfte jedoch deutlich höher liegen. Denn weitere 23 Frauen starben laut KCDP im zurückliegenden Monat unter „zweifelhaften Umständen“. Die Erfahrung zeige, dass Täter oft Szenen konstruierten, um Femizid als Selbstmord, Unfall oder natürlichen Tod aussehen zu lassen. „Unseren Daten nach waren dies die höchsten Zahlen, die wir je in einem Monatsbericht veröffentlicht haben“, betonte die Organisation.
19 der ermordeten 48 Frauen wurden mutmaßlich von ihren Ehemännern, Partnern oder Ex-Freunden ermordet. In den meisten anderen Fällen kamen die Tatverdächtigen aus der engen Verwandtschaft, darunter Brüder und Söhne. „Diese Frauen wurden getötet, weil sie selbstbestimmt Entscheidungen über ihr Leben treffen wollten, weil sie sich scheiden lassen wollten, weil sie eine Versöhnung ablehnten, weil sie nicht heiraten oder keine Beziehung eingehen wollten“, heißt es in dem Bericht. Bei 31 der erfassten Femizide sei unklar, warum die Frauen getötet wurden. Die Plattform macht das daran fest, dass patriarchale Gewalt und Femizide in der Türkei verheimlicht und vertuscht werden. „Solange jedoch die Täter nicht ausgemacht und die Motive für die Morde nicht aufgeklärt werden, solange es keine fairen Prozesse gibt und die Verdächtigen und Täter nicht wirklich abschreckende Strafen bekommen, solange keine Vorkehrungen getroffen werden, wird die Gewalt noch größere Dimensionen annehmen“, befürchtet die Organisation.
Der Bericht führt zudem vor Augen, dass Frauen am wenigsten sicher in ihrem Zuhause sind: 54 Prozent der im Vormonat in der Türkei von Männern getöteten Frauen wurden in ihren eigenen vier Wänden ermordet. Weitere Mordfälle ereigneten sich auf öffentlichen Plätzen wie Parks und Friedhöfen oder auf der Straße. In 33 Fällen wurden die Opfer erschossen, zwölf Frauen wurden erstochen, die übrigen wurden erwürgt, erschlagen oder totgefahren. Seit Jahresbeginn sind damit mindestens 310 Frauen in der Türkei Opfer eines patriarchal motivierten Mordes geworden. 183 weitere Frauen starben einen verdächtigen Tod.
„Wir werden Frauenmorde stoppen“
Die Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ („Kadın Cinayetlerini Durduracağız“) wurde 2010 in Istanbul von Familienangehörigen von Femizidopfern und Frauen aus verschiedenen Parteien und anderen Organisationen gegründet. Sie leistet Öffentlichkeitsarbeit gegen Femizid und veröffentlicht regelmäßig Statistiken und Hintergrundinformationen über Frauenmorde in der Türkei. Von Gewalt betroffene Frauen werden bei Prozessen begleitet, gleichzeitig wird für ihre Sicherheit gesorgt. Die Plattform versucht auch, als Nebenklägerin zugelassen zu werden. In vielen Verfahren ist dies auch gelungen.
Kampf für Rückkehr zur Istanbul-Konvention
In nicht aufgeklärten oder als „Selbstmord“ bezeichneten Fällen leistet die Plattform aktive Aufklärungshilfe. Ziel ist es, im Sinne der Frauen ein Umdenken bei den Gerichten und somit Präzedenzfälle zu schaffen. Sie kritisiert, dass Richter bei der Strafzumessung einen zu weiten Ermessensspielraum haben und viel zu oft Strafnachlässe für angeblichen Affekt, für Reue und oft sogar für gute Führung geben, nur weil die Täter in Anzug und Krawatte vor Gericht erscheinen. Sehr präsent war die Plattform auch im Kampf für den Erhalt des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, der sogenannten Istanbul-Konvention, die 2021 durch die Entscheidung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei außer Kraft gesetzt wurde. Ihren Kampf für eine Rückkehr des Landes zu dem völkerrechtlichen Vertrag setzt KCDP bis heute aktiv fort.
Foto: Kundgebung „Femizid bedeutet Genozid“ der kurdischen Frauenbewegung TJA in Wan, November 2021 (c) MA