Vor dem 16. Schwurgerichtshof Ankara wurde am Mittwoch im Strafvollzugskomplex Sincan der Prozess gegen die ehemalige HDP-Vorsitzende Figen Yüksekdağ fortgesetzt. Wie erwartet, hat das Gericht den Haftbefehl gegen die Politikerin, die am 4. November 2016 auf Betreiben des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan wegen „Terrorvorwürfen“ inhaftiert worden war, nicht aufgehoben. Im Februar 2017 folgte die Aberkennung ihres Abgeordnetenmandats, im März ist ihr aufgrund eines früheren rechtskräftigen Urteils der Status als Parteivorsitzende gestrichen worden. Figen Yüksekdağ wird unter anderem beschuldigt, eine Terrororganisation gegründet und geleitet zu haben. Außerdem habe sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft „Propaganda“ für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und „Separatismus“ betrieben. Die 92 Seiten lange Anklage stützt sich bei ihren Vorwürfen lediglich auf Reden und Aussagen in Interviews, die sie als parlamentarische Abgeordnete tätigte. Im Fall einer Verurteilung drohen Yüksekdağ bis zu 83 Jahre Gefängnis.
Ihre Verteidigungsrede nutzte Yüksekdağ gestern, um die aktuellen politischen Verhältnisse in der Türkei zu kritisieren und zum Widerstand aufzurufen. Dabei grüßte sie auch den Hungerstreik der inhaftierten HDP-Abgeordneten Leyla Güven und sagte: „Wir werden uns nicht an die Dunkelheit gewöhnen.“
Sieben Verfahren zusammengefasst
Viele Abgeordnete und Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hatten sich bereits in den Morgenstunden am Sincan-Gefängnis versammelt, um das Verfahren gegen Yüksekdağ zu beobachten. Die Parteivorsitzenden Pervin Buldan und Sezai Temelli, der stellvertretende Ko-Vorsitzende Murat Çepni, die Frauenrats-Sprecherin Dilan Dirayet Taşdemir, der Parteisprecher Saruhan Oluç, der Sprecher des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) Sedat Şenoğlu und der Berliner Politiker Hakan Taş nahmen an der Verhandlung teil.
Ein großer Teil der Besucher*innen musste draußen bleiben, da das Gericht die Anzahl der Zuschauer*innen auf 45 Personen beschränkt hatte. Figen Yüksekdağ wurde aus dem Gefängnis von Kocaeli-Kandira zum Prozess gebracht. Dort sind auch viele weitere kurdische Politikerinnen inhaftiert, unter anderem die abgesetzten Bürgermeisterinnen Gültan Kışanak und Nurhayat Altun.
„Wir erwarten hier keine Gerechtigkeit“
In ihrer Verteidigungsrede ging Yüksekdağ darauf ein, dass die Gerichte von politischen Vorgaben geleitet werden und sagte: „Wir erwarten hier keine Gerechtigkeit, aber es ist notwendig, dass sich alle gesellschaftlichen Dynamiken, alle die diese Region lieben, sich darum bemühen einen Ausgang aus dieser Hölle zu finden.“
Grüße an den Hungerstreik
Zum Hungerstreik von Leyla Güven erklärte sie: „Leyla Güven befindet sich seit 70 Tagen für die Aufhebung der Isolation auf Imrali und um einen Weg für einen demokratischen Lösungsprozess zu öffnen, im Hungerstreik. Auch wenn die Verteidiger der demokratischen Politik eingesperrt sind, ist Leyla Güven immer noch eine Abgeordnete dieses Landes. Güven, die von der politischen Macht im Gefängnis gehalten wird, wird von der Justiz und der Regierung dem Tod überantwortet. Nicht nur Güven, in den Gefängnissen haben viele politische Gefangene einen unbefristeten Hungerstreik begonnen, damit endlich wieder über eine demokratische, friedliche Lösung gesprochen werden kann. Auch die mit mir inhaftierte Sebahat Tuncel und Selma Irmak haben einen Hungerstreik begonnen. Ich grüße den Kampf aller unserer Freund*innen, die ihren Körper für den Frieden, eine Lösung und eine Zukunft hungern lassen.“
Gericht entscheidet über weitere Inhaftierung
Das Gericht wies einen Befangenheitsantrag der Anwält*innen von Yüksekdağ zurück und entschied über ihre fortgesetzte Inhaftierung. Das Strafmaß der ihr vorgeworfenen „Tatbestände“ sei zu hoch, um eine Freilassung mit Meldeauflagen zu ermöglichen. Der nächste Verhandlungstag ist für den 11. März angesetzt.
Yüksekdağ: Sie haben bewiesen, dass sie nicht unabhängig sind
Yüksekdağ erklärte, die Entscheidung anzufechten und fügte an: „Diese Entscheidung, die Sie hier getroffen haben, beweist meine Aussagen, wonach dieses Gericht weder unparteiisch noch unabhängig ist. Sie haben hiermit der ganzen Welt gezeigt, dass Sie nicht unparteiisch sind. Das Recht wird vor aller Augen ermordet. Aber wir wissen, dass wir vom Volk nicht zu trennen sind und wir unseren legitimen, demokratischen Weg drinnen wie draußen weiter gehen werden.“
Wer ist Figen Yüksekdağ?
Die 47-Jährige Figen Yüksekdağ ist Mitgründerin der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (Ezilenlerin Sosyalist Partisi, ESP) und war bis September 2014 deren Vorsitzende. Nach der Niederlegung ihres Amtes trat sie zur HDP über. Noch im gleichen Jahr schloss sich dann die ESP der als Dachpartei mehrerer Kleinparteien fungierenden HDP an. Auf dem zweiten HDP-Parteikongress wurde Figen Yüksekdağ am 22. Juni 2014 zur Ko-Vorsitzenden gewählt.
Im Dezember wurde in einem weiteren Verfahren eine anderthalbjährige Haftstrafe gegen Figen Yüksekdağ bestätigt. Die Politikerin wurde für ein Interview verurteilt, das sie im Jahr 2015 der Deutschen Welle gegeben hat. Am 6. Juni 2017 war deswegen ein Verfahren wegen „Propaganda für eine terroristischen Vereinigung“ eingeleitet worden.