Der Wahlkrimi in der Türkei ist vorbei. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl um die Präsidentschaft gewonnen und bestimmt weitere fünf Jahre die Geschicke des Landes. Für die Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Grüne Linkspartei (YSP) ist nach dieser Wahl klar, dass sie fortan noch härter für Demokratie und Menschenrechte kämpfen müssen. Die Bereitschaft dafür ist hoch, wie die Parteispitzen Pervin Buldan und Mithat Sancar (HDP) sowie Çiğdem Kılıçgün Uçar und Ibrahim Akın (YSP) am späten Sonntagabend bei einer Pressekonferenz in Ankara verkündeten. Entscheidender Faktor wird die Ausweitung des Kampfes sein, um die tief gespaltene Gesellschaft zu einen, die, am Scheideweg stehend, auf dem Vulkan tanzt.
„Wir haben eine unfaire und von Verletzungen demokratischer Grundregeln geprägte Wahl erlebt, die unter den repressiven Bedingungen des Ein-Mann-Regimes stattgefunden hat“, sagte Akın. Der YSP-Sprecher kritisierte unfaire Bedingungen im Vorlauf der Wahl und staatliche Manipulation. „Es gab keine freien Medien, keine unabhängige Justiz. Staatliche Mittel wurden zugunsten des Amtsinhabers eingesetzt und eine Troll-Armee im Netz, die im Dienst des Propagandaapparats des Palasts steht, hat mit der Erstellung von Deep-Fake-Inhalten und der Verbreitung von Desinformation in Form einer Informationsverschmutzung immer wieder eindeutig zur Schau gestellt, dass die Wahl nicht fair verlaufen ist.“
Nach dem vorläufigen Ergebnis der Präsidentenwahl erhielt der Erdoğan bei der Stichwahl um das höchste Amt im Land am Sonntag gut 52 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP kam auf knapp 48 Prozent. Laut Akın sei damit der Wille des Volkes für den Systemwechsel trotz aller Repressionen deutlich zum Ausdruck gekommen.
Wir haben uns bemüht, die Tür zur Demokratie aufzustoßen
„Wir haben von Anfang an zum Ausdruck gebracht und verteidigt, dass es bei diesen Wahlen in erster Linie um den Wechsel eines autoritären Regimes geht. Wir haben uns bemüht, die Tür zur Demokratie aufzustoßen, indem wir der Gesellschaft, die vor einer Wahl zwischen Autoritarismus und Demokratie stand, realistische Perspektiven vorgegeben haben. Mit dieser Strategie und unserem Kampf im Einklang damit haben wir Erdoğan in der ersten Runde gestoppt. Im zweiten Wahlgang haben wir dieselbe Strategie mit dem Ziel eines Regimewechsels fortgesetzt. Die Ergebnisübersicht zeigt, dass unsere Wählerinnen und Wähler für die Politik und die Ziele unserer Partei entschlossen eingetreten ist und ihren Willen beim Urnengang um Ausdruck gebracht haben. In 16 mehrheitlich kurdischen Provinzen hat die Bevölkerung ihre Wahlpräferenz wie bereits im ersten Durchgang am 14. Mai für Kemal Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Trotz immensen Drucks und schmutziger Propaganda ist unser Volk keinen Schritt zurückgewichen.“
Akın bedankte sich bei der kurdischen Bevölkerung und allen Wählerinnen und Wählern der YSP, die ihrem Wunsch nach Veränderung und Demokratie im Einklang mit ihrer Parteipolitik Ausdruck verliehen haben und begrüßte ihre Haltung und ihren Kampf. Gleichzeitig gab er sich selbstkritisch. Man müsse die Ursachen des Wahlergebnisses analysieren und aufarbeiten und daraus die Konsequenzen ziehen, sagte Akın. „Dies ist ein Erfordernis unserer Verantwortung gegenüber unserem Volk und unserer Tradition des Kampfes. In der Hitze des Gefechts müssen wir uns eines vor Augen führen: Sollte die sogenannte Volksallianz auf ihrer Strategie der Einkesselung und Unterdrückung der Gesellschaft beharren, die sie besonders seit 2015 praktiziert, wird die Hyperkrise in der Türkei mit ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen das Tor zu einem großen Zusammenbruch öffnen.“
Gegen diese Politik und Praxis wollen die YSP und HDP die Gesellschaft und ihre Rechte weiterhin mit aller Kraft verteidigen und in allen Bereichen kämpfen, führte Akın aus. „Mit allen unserer Abgeordneten werden wir die Prinzipien der Demokratie, des Friedens, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Freiheit unter dem Dach des Parlaments verteidigen und unseren Widerstand für eine demokratische Republik auf die nächste Ebene bringen. Die Hauptaufgabe der politischen Akteur:innen in der Türkei besteht daher darin, das derzeitige System zu ändern, das eindeutig blockiert ist, die Gesellschaft polarisiert und die Grundlagen der Demokratie zerstört. Mit Blick auf das 100-jährige Bestehen der Republik ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir gemeinsam eine zivile und demokratische Verfassung erarbeiten.“
Die demokratische Politik wachsen lassen
Gesellschaft und Politik seien der Abwärtsspirale nicht hoffnungslos ausgeliefert, sondern hätten die Chance, bewusst und aktiv in den Prozess der Veränderung einzugreifen, betonte Akın. YSP und HDP seien in jedem Fall bereit: „Wir sind hier. Wir werden den demokratischen Kampf für den Wandel sowohl im Parlament als auch in allen anderen Bereichen des Lebens weiterführen, wir werden die demokratische Politik wachsen lassen. Wir werden nicht von diesem Weg abkommen. Mit der Basis der Gesellschaft werden wir kämpfen und gemeinsam gewinnen.“