Der HDP-Vizefraktionsvorsitzende Saruhan Oluç hat sich in Ankara gegenüber ANF zu der Debatte um ein mögliches Verbot seiner Partei geäußert.
Oluç geht in seinem Statement auf die Rolle des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli ein, der vor anderthalb Wochen mit Verweis auf die Anklageschrift im sogenannten „Kobanê-Verfahren“ erneut ein Verbotsverfahren gegen die HDP gefordert hatte. In dem Verfahren werden 108 Politikerinnen und Politiker im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten im Herbst 2014 terroristischer Straftaten beschuldigt. Laut Oluç ist die Anklage haltlos und nur darauf ausgelegt, die HDP zu kriminalisieren und an ihrer politischen Arbeit zu hindern.
„Politisches Komplott“
Oluç verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil im Demirtaş-Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der EGMR hatte im Dezember die sofortige Freilassung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş angeordnet. „In der Urteilsbegründung wird vieles deutlich. Es geht dabei um die Zeit zwischen 2014 bis 2020. Einer der wichtigsten Punkte in dem Urteil ist die Feststellung, dass es sich bei den Prozessen gegen die HDP um politisch motivierte Verfahren handelt. Aus juristischer Perspektive gehen sie nicht auf begangene Straftaten zurück, sondern sind auf politische Anweisung angestrengt worden. Das gilt auch für das Kobanê-Verfahren. Die Anklageschrift erfolgte acht Tage nach dem EGMR-Urteil im Fall Demirtaş. Mit dieser Anklage soll die HDP einschließlich ihrer Mitgliedsparteien, Bündnispartner und Institutionen von der politischen Bühne gefegt werden. Sie richtet sich nicht nur gegen die HDP, sondern gegen die gesamte kurdische politische Bewegung.“
Vernichtungsschlag gegen den Friedensprozess
Laut Oluç soll mit dem Prozess die Phase des Dialogversuchs auf Imrali ausgelöscht werden – einschließlich der damaligen Akteure: „Die Anklageschrift ist völlig haltlos und beruht auf den Aussagen anonym gehaltener Zeugen. Der Regierung geht es weder bei diesem noch bei anderen Prozessen um das Recht. Früher wurde noch versucht, den Prozessen einen juristischen Deckmantel zu verpassen, inzwischen wird nicht einmal mehr das getan. Daher ist es auch nicht wichtig, ob viel oder wenig in der Anklageschrift steht, sondern was damit bezweckt wird. Es geht darum, gewählte politische Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Zeit auszuschalten. Auf juristischer Ebene werden Juristen natürlich darauf antworten. Auf politischer Ebene lautet die Antwort: Die politischen Akteure einer bestimmten Zeit, in der es im wesentlichen um einen Lösungsprozess ging und Gespräche auf Imrali stattgefunden haben, sollen mit diesem Prozess endgültig ausgeschaltet werden. Im politischen Bereich werden wir ausführlich darauf eingehen, mit was für einer Denkweise diese Anklage erhoben wird. Wir werden verdeutlichen, welche Zeit die Anklage betrifft, auf welchem Niveau die Feindseligkeit gegenüber dem kurdischen Volk inzwischen angelangt ist, wie eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage in immer weitere Ferne gerückt wird und wie der Friedensprozess beendet worden ist.“
Good cop, bad cop
In der Debatte um ein Verbot der HDP nehmen die Koalitionspartner AKP und MHP unterschiedliche Rollen ein. Oluç erklärt dazu: „Diese Widersprüche interessieren uns nicht besonders. Es gibt die republikanische Koalition, der AKP und MHP angehören. Diese Koalition ist zurzeit an der Macht. Wenn ein Koalitionspartner, in diesem Fall die MHP, eine Verbotskampagne gegen die HDP ins Rollen bringt, bewerten wir das als Regierungspolitik. Der Unterschied zwischen den beiden Parteien ist die Tatsache, dass die MHP keine Anhänger in irgendeinem Teil der kurdischen Gesellschaft hat. In den kurdischen Gebieten wählen nur Sondereinsatzkräfte und Polizisten die MHP, also die Personen, die die HDP ständig angreifen. Die AKP hingegen hat teilweise auch eine kurdische Wählerschaft, die sie nicht verlieren will. Sie übernimmt daher die Rolle des guten Polizisten. Die Rolle des bösen Polizisten ist der MHP zugedacht worden. Sie will damit die verlorenen Stimmen im nationalistischen Spektrum zurückgewinnen.“
Keine Zugeständnisse in der Politik
Ein Verbot der HDP wäre ein schwerer Schlag für die demokratische Politik in der Türkei, führt Oluç weiter aus: „Es sind bereits fünf Parteien verboten worden, die mit derselben Ausrichtung wie wir gekämpft haben. Nichts davon hat zu einer Lösung der kurdischen Frage geführt. Der politische Kampf ist nach jedem Parteiverbot fortgesetzt worden. Wir halten an unserer entschlossenen Einstellung in der demokratischen Politik fest und werden keine Zugeständnisse machen. Dafür haben wir eigene Pläne. Sowohl politisch als auch hinsichtlich der demokratischen Legitimität kann uns ein Verbot nicht schwächen. Wir werden sogar gestärkt daraus hervorgehen. Wir laden die Regierung und die Justiz ein, ihren gesunden Menschenverstand zu nutzen. Kein Problem der Türkei lässt sich mit einem Parteiverbot lösen.“
Kein Laden, den man einfach schließen kann
Der AKP/MHP-Block verfolgt laut Oluç das Ziel, die kurdische Politik gänzlich aus der demokratischen Arena verschwinden zu lassen. Das werde man nicht zulassen, kündigt der HDP-Vizefraktionsvorsitzende an:
„2015 wollte Erdogan 400 Abgeordnete haben, um ,die Angelegenheit' zu beenden. Diese 400 Abgeordneten brauchte er für eine Verfassungsänderung. Das war auch der Grund, warum die HDP so stark bekämpft wurde. Aus den Wahlen im Juni 2015 ging die HDP mit großem Erfolg hervor. Die Neuwahlen im November hatten das Ziel, die HDP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern zu lassen. Auch das hat nicht geklappt. Jetzt wird wieder dasselbe versucht. Möglicherweise werden Gesetzesänderungen zu Wahlen und politischen Parteien auf die Agenda kommen. Es wird alles benutzt werden, womit die HDP aus dem Bereich der demokratischen Politik verdrängt werden kann. Nur darum geht es. Wir haben sechseinhalb Millionen Wählerinnen und Wähler und vertreten knapp zwanzig Millionen Menschen. Was soll mit diesen Menschen geschehen, wenn die Partei verboten wird? Wohin sollen sie geschickt werden? Gibt es darauf eine Antwort? Diese Menschen haben das Recht, ihre eigene Politik und ihre eigenen Vertreter zu wählen. Das kurdische Volk wird dieser Forderung entsprechend handeln.
Die HDP hat die Stärke, die politischen Balancen in der Türkei zu verändern und festzulegen. Mit einem Parteiverbot lassen sich die Menschen nicht von demokratischer Politik abhalten. Welcher Weg dafür gefunden wird, werden wir alle gemeinsam sehen. Natürlich haben wir Vorbereitungen getroffen. Wir werden es nicht zulassen, dass wir aus der demokratischen Politik ausgeschlossen werden.
Selbst wenn alle Vorstandsmitglieder und Abgeordneten ins Gefängnis kommen, hinter ihnen steht eine neue motivierte und kampfbereite Generation bereit. Dieser Kampf lässt sich nicht durch Verhaftungen und Verbote beenden. Die HDP ist schließlich kein Laden, den man einfach verriegeln kann. Sie ist eine riesengroße Volksbewegung.“