„Wir müssen lauter werden als wir es sind“

In Istanbul hat eine Mahnwache für die hungerstreikenden Rechtsanwält*innen Ebru Timtik und Aytaç Ünsal stattgefunden. Der 75-jährige Autor Eşber Yağmurdereli rief die Behörden zu Menschlichkeit auf, Leyla Güven forderte: „Wir müssen lauter sein.“

Im Istanbuler Bezirk Bakırköy hat eine weitere Mahnwache für die hungerstreikenden Rechtsanwält*innen Ebru Timtik und Aytaç Ünsal stattgefunden, die trotz gerichtsmedizinisch festgestellter Haftunfähigkeit nicht aus dem Strafvollzug entlassen werden. Auch eine Beschwerde beim türkischen Verfassungsgerichtshof in Ankara blieb zuletzt erfolglos. Die beiden Jurist*innen, die derzeit gegen ihren Willen in verschiedenen Krankenhäusern in Istanbul unter Beobachtung stehen, müssen vorerst in Haft bleiben. Das stößt in breiten Kreisen der Gesellschaft auf heftige Kritik. Ebru Timtik und Aytaç Ünsal sind Rechtsanwält*innen der linken Vereinigung „Rechtsbüro des Volkes“ („Halkın Hukuk Bürosu“) und waren im Februar gemeinsam mit weiteren inhaftierten Kolleg*innen in den Hungerstreik getreten, den sie am 5. April – dem „Tag des Anwalts” – in ein „Todesfasten” umgewandelt hatten. Die Jurist*innen waren im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Kronzeugen zu langjährigen Haftstrafen nach Terrorparagrafen verurteilt worden. Mit ihrer Aktion fordern sie ein gerechtes Verfahren.

Yağmurdereli: Mehr Menschlichkeit

Die heutige Mahnwache, zu der wieder der Zusammenschluss „Koordination Freiheit für die Verteidigung“ aufgerufen hatte, fand erneut auf dem Platz vor dem staatlichen Krankenhaus „Dr. Sadi Konuk“ statt, in dem die inzwischen auf weniger als 35 Kilogramm abgemagerte Ebru Timtik festgehalten wird. Der 75-jährige Anwalt, Aktivist und Buchautor Eşber Yağmurdereli durfte sie heute besuchen und beklagte die schlechten Bedingungen, unter denen seine Kollegin festgehalten wird. „Wir alle wissen, wie schlecht die Lebensumstände in Gefängnissen aussehen. Aber die Strafmaßnahmen gegen Ebru und Aytaç sind bei weitem noch viel strenger.“ Yağmurdereli appellierte an das Justizministerium, Menschlichkeit zu zeigen und die beiden Anwält*innen freizulassen, bevor es zu spät ist. Für die Türkei, die vorgibt ein Rechtsstaat zu sein, wäre es eine Schande, sollten Timtik und Ünsal ihr Leben verlieren. „Wir wollen nicht Teil dieser Schande sein. Das Ministerium muss endlich handeln“, sagte Yağmurdereli.

Botschaft von Ebru Timtik

Der Schauspieler Menderes Samancılar verlas im Anschluss eine Botschaft von Ebru Timtik an die Teilnehmenden der Kundgebung. Darin hieß es: „Das Recht auf Hofgang existiert hier nicht. Sogar Gefangene in Einzelhaft erhalten jeden Tag eine Freistunde. An der frischen Luft zu sein, ist eine lebenswichtige Notwendigkeit. Wir dürfen hier noch nicht einmal das Fenster öffnen. Es gibt einen Ventilator, der Zugluft auf uns bläst. Der Lärm der Klimaanlage ist nicht zum Aushalten, die Luft im Raum ist trocken. Der Geruch chemischer Reinigungsmittel stört enorm. Mehrmals am Tag zwingen uns Krankenschwestern, Ärzte und das Wachpersonal zum Reden. Meine Halsschmerzen verschwinden nicht mehr. Je mehr ich spreche, desto schlimmer werden sie. Die Jandarma [Militärpolizei] steht hinter der Glastüre. Unsere Blicke begegnen sich 24 Stunden am Tag. Wir erhalten keinen Spiegel, keine Nagelschere, keine Pinzette. Im Gefängnis war es besser. Mit Liebe.“

Leyla Güven: Wir müssen eins sein

Auch die Ko-Vorsitzende der kurdischen Graswurzelorganisation „Kongreya Civaka Demokratîk“ (deut. Demokratischer Gesellschaftskongress) Leyla Güven nahm an der Mahnwache teil. Die Politikerin war selbst mal für 200 Tage im Hungerstreik. „Aktionen wie diese sind wichtig, da sie eine Botschaft übermitteln. Diese Anwälte schmelzen körperlich – wortwörtlich wie sinnbildlich – dahin, damit ein Aufschrei durch die Gesellschaft geht. Sie verlangen Gerechtigkeit, damit wir alle Vertrauen in die Zukunft haben.“ Güven kritisierte, dass das „Todesfasten“ von Timtik und Aytaç in einigen Kreisen ignoriert und sogar Leid gespalten werde. Die Ursache sieht die frühere Parlamentsabgeordnete bei der fehlenden Organisierung von gesellschaftlichen Gruppen, die diskriminiert werden. „Der Schmerz und das Leid derjenigen, die aus welchen Gründen auch immer ausgegrenzt werden, hat dieselbe Wurzel. Warum also den Schmerz spalten? Ob es die Mütter von Ebru und Aytaç sind oder es die Mutter des Guerillakämpfers ist, der die Knochen ihres Sohnes per Post in einer Kiste zugeschickt wurden: Sie alle sind Mütter, die Leid erfahren. Das müssen wir alle verinnerlichen. Wir müssen begreifen, dass es keine Unterschiedene zwischen den tausenden politischen Gefangenen gibt, die in den Strafvollzugsanstalten dem sicheren Tod überlassen werden. Wir müssen eins sein, ob wir nun ‚Nein zur Isolation‘ oder ‚Ebru und Aytaç sollen leben‘ sagen. Und wir müssen lauter werden, als wir es sind. Nur auf diese Weise können wir etwas erreichen.“