Veranstaltung in Hamburg zur politischen Situation in der Türkei

Auf Einladung der IPPNW hat eine Menschenrechtsdelegation aus Amed und Wan in Hamburg über die politische Situation nach dem Erdbeben und den Wahlen in der Türkei und die Lage der Geflüchteten berichtet.

Während seit 25 Jahren Delegationsreisen der IPPNW (Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzt:innen in sozialer Verantwortung e.V.) in die Türkei durchgeführt werden, fand in diesem Jahr zum dritten Mal ein Gegenbesuch von Menschenrechtsaktivist:innen aus Amed und Wan (tr. Diyarbakir und Van) in Deutschland statt. Die Allgemeinmedizinerin Gisela Penteker, Türkeibeauftragte der IPPNW, führte die Delegationsmitglieder zu verschiedenen Organisationen und Einrichtungen in Hamburg und Berlin. Im Rahmen dieser Reise fand am Mittwoch eine Veranstaltung im Centro Sociale in Hamburg statt. Diese begann mit Impulsvorträgen der kurdischen Delegation.


Der in Amed lebende Psychologe Ali Toprak erinnerte an die furchtbaren Geschehnisse während und nach dem Erdbeben im Februar dieses Jahres. Die Zahlen der Todesopfer seien mit Sicherheit beschönigt worden. In Semsûr (Adiyaman) habe er dies selbst erlebt. Er sei als freiwilliger Helfer am vierten Tag nach dem Erdbeben in die Stadt gekommen, in der es eine alevitische Bevölkerungsmehrheit gibt. Bis dahin habe es noch keinerlei staatliche Hilfe gegeben. Sehr viele Leichen wären bereits aus den Trümmern geholt worden, ohne dass jemand diese registriert habe.

Ruken Ay vom Frauenverein Van ging insbesondere auf die Situation der kurdischen Kinder ein. Zwar seien in den 1990er Jahren Kinderrechte in der Türkei festgeschrieben worden, doch umfassten diese nicht das Recht auf muttersprachlichen Unterricht und kulturelle Rechte. Z.B. sei es Kindern 2022 verboten gewesen, anlässlich des Newroz-Festes kurdische Kleidung zu tragen. Wenn sie sich weigerten, diese auszuziehen, seien sie dazu gezwungen und erkennungsdienstlich behandelt worden. Auch die eigentlich festgeschriebenen Kinderrechte würden in der Türkei nicht eingehalten: Kinderarbeit, sexualisierte Gewalt und andere Straftaten gegen Kinder würden häufig nicht geahndet. Auch seien viele Kinder von Sicherheitskräften gezielt getötet worden, ohne dass die Täter rechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Kurdische Kinder, die sich bei Kommunalwahlen engagieren, würden als potentielle „Steinewerfer“ behandelt, während andernorts in der Türkei Kinder zu Wahlkampfbeteiligungen ermutigt werden und Applaus bekämen.

Elif Turan, Vorsitzende der Ärztekammer in Amed und Mitglied der Menschenrechtsstiftung Türkei (TIHV), erzählte aus ihrer Stadt von vergleichsweise weniger Menschen, die in den Erdbebentrümmern umgekommen sind. Es gebe jedoch nach wie vor sehr viele Obdachlose. Die Ärztekammer in Amed habe zusätzlich die Verantwortung für Semsûr übernommen. Sie seien ab dem zweiten Tag dort präsent gewesen, hätten Zelte aufgebaut und Hilfe angeboten. Besonders wichtig sei gewesen, dass sie die Gesundheitsversorgung muttersprachlich hätten anbieten können. Auch in Semsûr habe die Zwangsverwaltung zunächst gar nicht lokal gearbeitet, alles sei der Zivilgesellschaft überlassen worden.

Zum Schluss gab es einen Beitrag über die Situation der Geflüchteten in der Türkei von Mahmut Kaçan, Rechtsanwalt für Migrationsrecht sowie ehemaliger Vorsitzender der Anwaltskammer Van und ehemaliger Mitarbeiter des UNHCR. In der Türkei leben mittlerweile offiziell ca. 3,7 Millionen Geflüchtete. Zugleich sei die Türkei eines der Länder, von denen die meisten Menschen nach Europa fliehen. Z.B. seien in Berlin 16 Prozent aller neuen Asylanträge von türkischen Staatsangehörigen gekommen, das sei die fünftgrößte Anzahl aller Asylanträge. Bis 2010 sei die Zahl der Geflüchteten in der Türkei noch überschaubar gewesen und habe bei etwa 10.000 bis 12.000 Menschen gelegen. Erst mit dem syrischen Bürgerkrieg und dem „Flüchtlingsdeal“ mit der EU seien so viele Menschen ins Land gekommen. Seither nutze die Türkei die Geflüchteten als Waffe gegen die europäischen Staaten, damit diese finanzielle Unterstützung geben und zu den Menschenrechtsverletzungen schweigen.

Auf eine Publikumsfrage hin gab Rechtsanwalt Kaçan an, dass von den 220.000 Gefangenen in türkischen Gefängnissen ca. 80-90.000 aus politischen Gründen inhaftiert seien (die Anhänger der Gülen-Bewegung mitgerechnet). Während es für alle anderen Gefangenen häufig Hafterleichterungen und Amnestien gegeben habe, sei die Situation für die politischen Gefangenen immer gleich geblieben. Bei vielen gebe es häufig trotz abgesessener Strafe keine Freilassung. Schlimm sei die Situation auch für die vielen schwerkranken Gefangenen.

Eine weitere Publikumsfrage zielte auf den geplanten Umbau des berüchtigten Foltergefängnisses in Amed zu einer Gedenkstätte. Nach Wunsch des Tourismusministers solle das zukünftige Museum eher ethnologische Inhalte thematisieren und nicht die ehemaligen Gefangenen zu Wort kommen lassen. Die öffentliche Auseinandersetzung zu dieser Frage dauert an.

Im Publikum tauchte auch die Frage danach auf, warum trotz des allgemein bekannten staatlichen Missmanagements des Erdbebens so viele Menschen in der Türkei die AKP gewählt hätten: Besonders in den westlichen kurdischen Gebieten in der Türkei sei auch die kurdische Bevölkerung geprägt von der Einstellung: „Wenn wir nur das machen, was die AKP sagt, dann bekommen auch wir Unterstützung.“ Kurz vor den Wahlen, in der verzweifelten Situation nach dem Erdbeben, hätten sich viele an genau diese Hoffnung geklammert. Sie hätten sich bestätigt gefühlt, als die AKP kurz vor den Wahlen auf Staatskosten Container errichtete und einige Menschen wenigstens aus den Zelten ausziehen konnten.

Zum Schluss der Veranstaltung ging es um die Frage, zu welchen Themenbereichen genau in Deutschland eine weitere Spendenkampagne für Erdbebenopfer entfacht werden könne. Hier kam neben vielem anderen der marode Zustand der Behelfscontainer zur Sprache und der vielerorts immer noch nicht umsetzbare Schulunterricht für Kinder.

Insgesamt sei es am wichtigsten, dass die Menschen wieder die Möglichkeit bekämen, aus eigener Kraft ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Nach z.T. zweimaliger Zwangsumsiedlung oder Vertreibung sei ihnen nicht mehr viel geblieben. Widerstand, stabile Organisationsstrukturen und Solidarität seien das einzige, das den Menschen Halt gebe. Und nur auf diesem Boden sei es den Menschen möglich, ihre Wunden halbwegs selbst zu heilen.

Mit einem großen Applaus dankten die Zuschauer und Zuschauerinnen den engagierten und anschaulichen Berichten der kurdischen Gäste.