Türkische Staatsräson

Egal wer in der Türkei an der Macht war, alle waren sich immer darin einig, dass jedes Unrecht verscharrt wird, sobald es um türkische Interessen geht. Das ist die türkische Staatsräson.

Am vergangenen Mittwoch wurden bei Restaurierungsarbeiten im ehemaligen zentralen Gefängnis von Amed (tr. Diyarbakir) im Stadtteil Sûr, der 2016 im Städtekrieg durch die türkische Armee fast gänzlich zerstört wurde, drei Leichen gefunden. In den 1990er Jahren hatte der für Tausende Morde an Zivilist:innen verantwortliche türkische Militärgeheimdienst JITEM das Gefängnis als Verhörzentrum genutzt. Damals wurde dieses Zentrum als die Adresse der „Verschwundenen“ bezeichnet. Bereits im Januar 2012 wurden bei Bauarbeiten Leichenteile entdeckt, woraufhin die Generalstaatsanwaltsschaft von Amed die Angelegenheit übernahm, doch wurde danach nie wieder ein Wort über den Fund öffentlich gesprochen. Jedes Mal, wenn eine Hacke in die Erde gehauen wird, werden Leichen unter ehemals staatlichen Stellen in Kurdistan entdeckt. Das Gefängnis von Diyarbakir hatte in den 1980er Jahren einen zweierlei berühmt-berüchtigten Ruf: Zu einem als eines der schlimmsten Foltergefängnisse weltweit, zum anderem als das Symbol des Widerstands.

Drohungen gegen Griechenland

Am vergangenen Mittwoch führte das türkische Militär ein Militärmanöver namens „Efes 2022“ über den griechisch-ägäischen Inseln durch. Recep Tayyip Erdoğan nahm persönlich am Militärmanöver teil und drohte erneut mit scheinheiligen Argumenten wie der Militarisierung der Inseln durch Griechenland, weshalb die Türkei die griechische Souveränität dort nicht mehr anerkenne. Dabei waren es NATO-Staaten wie die USA und Frankreich, die ihre Militärbasen auf die Inseln verlegt und mit Griechenland einen Pakt geschlossen haben. Erdoğan drohte auf Twitter in Griechisch: „Griechenland wird es wie vor hundert Jahren bereuen, wenn es nicht auf seine Vorgehensweise, Worte und Taten achtet.“ Wieder am selben Tag verkündete Erdoğan seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2023, zu der die AKP mit der faschistischen MHP erneut im Bündnis antreten wird.

Angriff gegen Rojava

Auch wenn Erdoğan in der Ägäis die Muskeln spielen lässt, schielt er doch tatsächlich auf die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Am Mittwoch telefonierte der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Jack Sullivan, mit dem Berater des türkischen Präsidenten, Ibrahim Kalin. Bei dem Telefonat machte Sullivan deutlich, dass die USA nichts von einer Militäroperation in Rojava halten. Auch die stellvertretende Staatsministerin im US-Außenministerium, Barbara Leaf, führte vor dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten aus, dass die USA gegenüber der Türkei klar gemacht haben, gegen eine türkische Militäroperation in Nordostsyrien zu sein. Jedoch gehe sie sicherlich nicht davon aus, dass die Türkei wegen der Einwände der USA von einer Militäroperation absehen werden. Ob Erdoğan diese Aussage als grünes Licht für seine so oft beschworene Militäroperation sehen wird, sei dahin gestellt. In seiner Ansprache am Donnerstag unterstrich er: „Entlang unserer Grenze werden wir 30 Kilometer tief eine Sicherheitszone einrichten. Damit verbannen wir nicht nur die Terrororganisationen von unseren Grenzen, sondern sorgen auch für die Sicherheit unserer Nachbarn. Wir werden keinen Korridor des Terrors hinnehmen und ich möchte betonen, dass wir die fehlenden Teile der Sicherheitszone ergänzen werden.“

Erdoğan führte weiter aus, er hoffe, dass die „Verbündeten und Freunde der Türkei“ die Sicherheitsbedenken der Türkei verstehen und niemand eine Wahl zugunsten der „Terroristen“ treffen werde. Dies scheint seine Botschaft an die USA zu sein. Zwar spricht sich die Biden-Administration öffentlich gegen einen Angriff auf Rojava aus, aber was hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird, ist noch nicht klar. Zumal die türkische Militäroperation als Ziel die Städte Tel Rifat und Minbic absteckt, die im Zuständigkeitsbereich des russischen Militärs stehen. Ferner ist in Tel Rifat eine nicht geringe Anzahl von iranischen Truppen stationiert. Auch Russland hat sich am Donnerstag öffentlich gegen eine Militäroperation der Türkei in den genannten Gebieten ausgesprochen. Nun kommt es darauf an, wie die Türkei agieren wird.

Während Erdoğan der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens Terrorismus vorwirft, schlagen regelmäßig Bomben durch türkische Drohnen und Artillerie dort ein und bringen abermals den Tod ziviler Menschen mit sich. Auch Südkurdistan wird täglich völkerrechtswidrig durch die türkische Luftwaffe bombardiert. Türkische Bodentruppen versuchen, in den befreiten Gebieten in Südkurdistan, wie etwa Avaşîn, Metîna, Heftanîn, Xarkurke und Zap, trotz großer Verluste voranzukommen. Der türkische Angriffskrieg erstreckt sich über 100 Kilometer tief in südkurdisches Gebiet hinein.

Razzien und Verhaftungen in der Türkei

Auch im Inneren der Türkei vergeht kaum eine Woche, ohne dass Razzien und Verhaftungen stattfinden. Verhaftungen von politisch aktiven Frauen, die Festnahmen von 20 kurdischen Journalist:innen und die Repression gegen weitere Aktivist:innen fügen sich in diese mittlerweile normalisierte Regelmäßigkeit und den Alltag der Kurd:innen in der Türkei ein.

Und welche Haltung hat die Opposition in der Türkei? Wie die Herrschenden versteht auch die sogenannte Opposition um die CHP, der Sechsertisch, Politik als ein Mittel von Türken für Türken. All ihr Probleme versuchen sie mit Gewalt zu lösen. Wenn es um die Nachbarn und die Minderheiten in der Türkei geht, reihen sie sich alle hinter das Regime. Deshalb gibt es kaum jemanden, mit dem sie nicht im Twist sind und keine Minderheit, mit der sie Frieden gestiftet haben. Ob säkular oder religiös, die türkische Politik ist militaristisch und herrschaftlich; sie wird nicht davor zögern, sich auf Abenteuer einzulassen, die in einer Katastrophe enden werden. Deshalb wird Erdoğan seine Wut gegen die Kurd:innen richten und den Kriegszustand etablieren, um unter diesen Bedingungen die Wahlen zu gewinnen. Eine andere Alternative hat auch die sogenannte Sechserrunde nicht, weil sie den Rahmen der türkischen Staatsräson nicht verlässt. Gut möglich, dass Erdoğan bis zum nächsten NATO-Gipfel abwartet, aber bestimmend wird sein Wahlkalender sein. Mit einer Militäroperation in Rojava wird der Kriegs- und Ausnahmezustand ausgerufen werden, womit jegliche Opposition erst recht mundtot und hinter Gitter gebracht wird. Und da es keine wirkliche Opposition in der Türkei gibt, wird Erdoğan auch die nächsten Wahlen mit seinem Krieg und der nationalistisch-militaristischen Rhetorik gewinnen.

Um nochmal auf den Anfang, die Leichenfunde im ehemaligen JITEM-Verhörzentrum, zu kommen: Egal wer in der Türkei an der Macht war, alle waren sich immer darin einig, dass jedes Unrecht verscharrt wird, sobald es um türkische Interessen geht. Das ist die türkische Staatsräson. So war es in den 1920er, den 1990er, in den 2000er Jahren; und so wird bis zu einem irgendwie charakterisiertem Ende bleiben.