Die Reaktionen auf die Operation, die am 19. März zur Verhaftung des Bürgermeisters der Istanbuler Stadtverwaltung, Ekrem Imamoğlu führte, schlugen in der gesamten Türkei hohe Wellen. Die Anschuldigungen gegen Imamoğlu und Beamt:innen der Istanbuler Stadtverwaltung, die sich insbesondere auf den mit der DEM-Partei erzielten Stadtkonsens bezogen, führten zu Protesten in der türkischen Gesellschaft. Diese Situation hat zu neuen Diskussionen über einen gemeinsamen Kampf zwischen der CHP, sozialistischen Gruppen und der DEM-Partei geführt.
Der CHP-Abgeordnete für Amed (Diyarbakır), Sezgin Tanrıkulu, sprach mit ANF über die Entwicklungen seit dem 19. März und die Perspektive der CHP in der kurdischen Frage.
CHP und Millionen vereint gegen den Putsch gegen Imamoğlu
Entgegen der Behauptung, die Massenproteste hätten die CHP überholt, sagte Sezgin Tanrıkulu, anstatt sich von der CHP zu distanzieren, hätten die Menschen sich gegen den Putschversuch gegen Imamoğlu zusammengeschlossen. Tanrıkulu sagte, dass die Regierung mit dieser Reaktion nicht gerechnet habe und fügte hinzu: „Istanbul ist nicht nur eine große Stadt, sondern auch eine Miniaturausgabe der Türkei. In Istanbul leben Menschen aus allen Provinzen der Türkei. Mit seinen 16 Millionen Einwohner:innen, seiner großen Wirtschaft, seinen Häfen und dem Bosporus ist Istanbul das Tor der Türkei zur Welt.
Mit dem Schicksal Istanbuls zu spielen, seinen Willen zu untergraben und die Stadtverwaltung von Istanbul funktionsunfähig zu machen, bedeutet daher, das ganze Land zu lähmen. Die derzeitige Regierung schert sich jedoch nicht um diese Gleichgewichte.“ Die Feindseligkeit der AKP gegenüber der Istanbuler Stadtverwaltung führte er auf die Wahlniederlagen der AKP in Istanbul bei den letzten beiden Kommunalwahlen zurück und den spezifischen Schlag gegen Imamoğlu auf dessen Rolle als größter Konkurrent Erdoğans bei den kommenden Wahlen.
Özels Haltung in der kurdischen Frage entspricht der CHP-Politik
Sezgin Tanrıkulu wies darauf hin, dass die Entschlossenheit, mit der sich der CHP-Vorsitzenden Özgür Özel der kurdischen Frage annähere, der diesbezüglichen Linie der CHP seit 2010 entspräche, welche deren Lösung nicht nur als politische Herausforderung, sondern als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechte verstehe. Dies habe die Regierung alarmiert. Tanrıkulu kritisierte die politische Haltung der derzeitigen Regierung, die keine Anstrengungen unternehme, um die kurdische Frage durch Dialog oder Verhandlungen zu lösen: „Die AKP will die kurdische Frage als einen funktionalen Bereich erhalten, in dem sie allein manövrieren kann, ohne sie zu lösen.“
CHP demonstriert Willen zur Lösung der kurdischen Frage
Nicht Anfang der 2000er Jahre und auch nicht einmal während des sogenannten Lösungsprozesses zwischen 2013 und 2015 sei die AKP, nach Ansicht von Tanrıkulu anders als die CHP, aufrichtig bezüglich der Lösung der kurdischen Frage gewesen. Er ist überzeugt: „Wären der Egoismus und der politische Opportunismus der AKP nicht gewesen, hätte die Türkei Anfang der 2000er Jahre die Standards für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) erreichen können, und die kurdische Frage wäre vielleicht schon vor mindestens 15 Jahren gelöst worden. Stattdessen hat die AKP die kurdische Frage immer als ein bequemes Instrument in Wahlkampfzeiten gesehen. Deshalb hat sich das Problem zunehmend regionalisiert und internationalisiert.
Wenn die AKP heute glauben würde, dass sie die nächsten Wahlen in einem Klima des Konflikts gewinnen kann, würde sie den aktuellen Prozess mit einem einzigen Schritt beenden. Aber sie hat keinen Hafen mehr, den sie erreichen könnte. Die CHP hingegen sieht die Kurdenfrage nicht als Wahlkampfinstrument, sondern als eines der größten Hindernisse für die Türkei. Deshalb demonstriert sie den Willen, sie zu lösen, koste es, was es wolle.“
Das Volk ist bereit zur Einheit
Tanrıkulu sieht in den aktuellen Geschehnissen auch Chancen. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen, Ideologien, Diskursen und Methoden seien die Schicksale derjenigen, die eine Demokratisierung in der Türkei wollen, miteinander verwoben. Hierdurch sei eine breite Bereitschaft entstanden, einen gemeinsamen Kampf zu führen.
Denn das Regierungshandeln führe dem Politiker zufolge eins klar vor Augen: „Von einer Regierung, die Treuhänder für Wan (Van), Êlih (Batman) und Colemêrg (Hakkari) ernennt und den politischen Willen der Kurd:innen an sich reißt, kann nicht erwartet werden, dass sie eine demokratische Regierung in Istanbul, Ankara oder Izmir zulässt. Ebenso kann man von einer Regierung, die den Bürgermeister von Istanbul strafrechtlich verfolgt, weil er einen Sadtkonsens mit den Kurd:innen erzielt hat, die Ekrem Imamoğlu und seine Kollegen inhaftiert, die einen Treuhänder für Esenyurt ernennt und die protestierenden Jugendlichen mit Folter begegnet, nicht erwarten, dass sie die Demokratie in Amed, Êlih oder Colemêrg fördert. Diese Regierung und die hinter ihr stehende herrschende Elite haben kein echtes Bekenntnis zu demokratischen Werten. Sie berufen sich nur auf das Wort ‚Demokratie‘, wenn es ihren Interessen dient.“
„Wir müssen uns aus diesem Teufelskreis befreien“
Für den Erfolg eines gemeinsamen Kampfes um Demokratie sieht Tanrıkulu die Bildung einer Einheit als Grundlage, da ohne sie nur punktuelle Kämpfe in einzelnen Bereichen entstehen könnten. Der Abgeordnete fasst dies in simplen Worten zusammen: „All unser Leid rührt daher, dass wir schweigen, wenn anderen Unrecht geschieht, und dass andere schweigen, wenn uns Unrecht widerfährt. Wir müssen uns aus diesem Teufelskreis befreien.“
Er zeigt sich überzeugt, dass sowohl die Bevölkerung wie auch die Politik zu diesem gemeinsamen Schritt bereit sind. Die Gewalt und Repression der Regierung habe die Menschen ihre Differnezen überkommen lassen. Abschließend versicherte er: „Aber selbst wenn diese breitere Einheit nicht zustande kommt, kann ich zumindest im Namen der CHP sagen, dass unser Kampf weitergehen wird, bis diese Regierung ausgetauscht ist.“
Der Stadtkonsens
Der „Stadtkonsens“ ist eine Strategie der DEM-Partei, verschiedener linken Kleinparteien und zivilgesellschaftlicher Gruppen, die im vergangenen Kommunalwahlkampf umgesetzt wurde. Auf dieser Basis wurden in zahlreichen Städten gemeinsame Kandidatenlisten erstellt und in einigen Orten CHP-Kandidierende unterstützt. Diese kommunalen Allianzen zwischen kurdischen und türkischen oppositionellen Kräften sollte zu gesellschaftlicher Versöhnung, interethnischer Zusammenarbeit und demokratischen Reformen beitragen. Mit der Behauptung die Idee des Stadtkonsens stamme von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wird versucht diese Bündnisse zu kriminalisieren.
Landesweite Proteste
Wegen vermeintlichem Korruptionsverdacht und Terrorvorwürfen, die sich auf den Stadtkonsens bezogen, wurde der CHP-Bürgermeister der Istanbuler Stadtverwaltung, Ekrem Imamoğlu, am 19. März zunächst festgenommen und schließlich inhaftiert. Dieses Handeln stürzte die Türkei in eine schwere politische Krise. Hunderttausende gingen in der Folge bei Protesten gegen die Erdoğan-Regierung auf die Straße – es waren die größten regierungsfeindlichen Proteste in der Türkei seit dem Gezi-Aufstand von 2013. Die Demonstrierenden werfen dem Staatspräsidenten vor, mithilfe der Justiz seinen aussichtsreichsten Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Während der Proteste wurden Tausende Menschen festgenommen, darunter mehrere Medienschaffende. Auch über 300 Studierende wurden in Untersuchungshaft genommen. Ihnen wurden Verstöße gegen das türkische Versammlungsverbot vorgeworfen.