Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf hat den kurdischen Aktivisten Selahattin Kaya wegen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Der 52-Jährige verließ nach Abschluss der Hauptverhandlung am Dienstag den Gerichtssaal auf freiem Fuß, wie der Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. mitteilt. Nachfolgend dokumentiert ANF die Erklärung von AZADÎ:
Gericht kriminalisiert Solidarität mit Kobanê
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Kaya zwischen Januar 2014 und Juli 2015 als Mitglied der PKK die „PKK-Sektoren“ „Süd 1“ und „Mitte“ geleitet habe. Eine individuelle Straftat wurde ihm – wie in den allermeisten Verfahren wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft – nicht vorgeworfen. Trotzdem habe er sich durch sein Engagement nach Auffassung des Gerichts der „mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland“ nach §§ 129a, 129b StGB strafbar gemacht. Konkret habe er Solidaritätsveranstaltungen für das vom sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) belagerte Kobanê organisiert, zu Demonstrationen aufgerufen und Wahlkampf für die Demokratische Partei der Völker (HDP) gemacht.
Selbstkritik des Angeklagten
In der Hauptverhandlung bestritt Selahattin Kaya diese Vorwürfe nicht, sondern bekannte sich zu seinem Engagement und erläuterte in einer Prozesserklärung, warum er in einer Zeit, in der der IS die kurdische Bevölkerung brutal angriff, es als notwendig erachtete so zu handeln: „Wie viele Kurdinnen und Kurden gaben ihr Leben, um den IS zu stoppen? Dagegen waren meine Möglichkeiten gering. Und wenn man mir einen Vorwurf machen kann, dann den, dass ich vielleicht nicht genug getan habe, um gegen die Barbarei des IS hier in Deutschland Veranstaltungen und Demonstrationen zu organisieren – wie es in der Anklageschrift immer wieder dargestellt wird – angesichts der unmittelbaren Gefahr für die Menschen.“
Türkei damals wie heute auf Kriegskurs
Des Weiteren stellte er in seiner Prozesserklärung die Aggressionen des türkischen Staats gegen Rojava dar, während dieser sich offiziell in einem Friedensprozess mit der PKK befand. Gerade im Kampf um Kobanê unterstützte das Regime nachweislich islamistische Gruppen, was unter anderem Recherchen des türkischen Journalisten Can Dündar ans Licht brachten. „Die PKK war es, die in diesen Jahren ernsthaft die Friedensverhandlungen mit dem türkischen Staat führte. […] Die PKK hat in dieser Zeit große Opfer für eine Lösung gebracht. Diejenigen, die sich damals und auch heute noch am meisten den Frieden wünschen, sind die PKK und das kurdische Volk. Es war die Regierung Erdoğan, die in Rojava und Şengal, die das Massaker am Bahnhof von Ankara durchführen ließ, einen politischen Putsch vollzog, die mit ihrer Unterstützung für den islamistischen IS Terroranschläge ausführen ließ, wie in Suruç, und damit den Friedensprozess beendete“, erklärte Kaya, um anschließend einen Bogen zur aktuellen Kriegssituation in Kurdistan zu schlagen. „Die letzten zehn Jahre sind erneut gesäumt von Toten, Leid, Angriffen mit Bomben, mit chemischen Waffen, mit der Aufhebung jeglichen Rechts. Bis heute. Erneut reagiert der türkische Staat auf den Waffenstillstand der PKK mit schweren Angriffen, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, auf die Region Xakurke, die 230-mal mit schweren Waffen, Artillerie und Haubitzen bombardiert wurde. Die PKK erklärt einen Waffenstillstand, der türkische Staat bombardiert.“
Unterstützung für Öcalans Friedensaufruf
Mit voller Überzeugung unterstütze er den Friedensaufruf Abdullah Öcalans von Ende Februar: „Diese Erklärung ist historisch und eine historische Möglichkeit in diesen Zeiten der Kriege, weil sie trotz der zahlreichen und täglich nachzulesenden Negation demokratischer Freiheiten und Rechte den einzigen Weg gerade darin sieht, die bewaffneten Auseinandersetzungen und den Krieg zu beenden und demokratische Verhältnisse zu schaffen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Und dieser erste Schritt nunmehr weitere Schritte nach sich ziehen muss.“
PKK rief einseitigen Waffenstillstand aus
In besagtem Aufruf hatte Abdullah Öcalan die Bereitschaft erklärt, die PKK aufzulösen, sofern rechtliche und politische Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Auch die PKK selbst hat diese Bereitschaft mehrfach bekräftigt und betont, dass alle notwendigen Schritte für einen erfolgreichen Friedensprozess eingeleitet werden müssten. Auf Öcalans Aufruf reagierte sie am 1. März wie folgt: „Als PKK erklären wir, dass wir den Inhalt des Aufrufs vollständig unterstützen und von unserer Seite aus alle erforderlichen Schritte einhalten und umsetzen werden. Gleichzeitig möchten wir betonen, dass für den Erfolg dieses Prozesses geeignete politische und rechtliche Rahmenbedingungen notwendig sind. […] In diesem Rahmen erklären wir einen ab dem heutigen Tag gültigen Waffenstillstand, um den Weg für die Umsetzung des Aufrufs von Rêber Apo zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft zu ebnen. Solange keine Angriffe auf uns erfolgen, werden unsere Kräfte keine bewaffneten Aktionen durchführen.“
Deutschland setzt weiter auf Kriminalisierung
Trotz dieser Erklärungen von kurdischer Seite vor rund zwei Monaten sind bisher keine öffentlich wahrnehmbaren Schritte seitens des türkischen Staates unternommen worden, um die Fortführung des angestoßenen Prozesses zu garantieren. Ganz im Gegenteil finden trotz einseitigen Waffenstillstands weiterhin Bombardierungen und Angriffe auf Stellungen der Guerilla und Zivilist:innen statt.
Auch die Bundesrepublik Deutschland hält trotz der seit Jahren günstigsten Aussicht auf einen Frieden in Kurdistan an ihrer Kriminalisierungs- und Repressionspraxis gegenüber kurdischen Strukturen fest. Und das obwohl an dem Tag, an dem der Aufruf Abdullah Öcalans der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ein Sprecher des Auswärtigen Amts erklärte, dass die Bundesregierung den Aufruf begrüße und bereit sei, „zu tun was wir können, um einen solchen Prozess zu unterstützen.“ Mit dem Festhalten an alten Mustern sendet die BRD ein Zeichen der Ignoranz, das von der kurdischen Gesellschaft in Deutschland deutlich wahrgenommen wird.
Dementsprechend verwarf der Senat einen zu Beginn der Hauptverhandlung von der Verteidigung gestellten Antrag, das Verfahren auszusetzen und das Bundesministerium für Justiz nach Rücknahme der Verfolgungsermächtigung zu ersuchen. Die Rücknahme der zur Verfolgung nach § 129b StGB notwendigen Ermächtigung wäre tatsächlich ein sichtbarer Beitrag zu einem Friedensprozess gewesen.
Verteidigung fordert Einstellung der Strafverfolgung
Selahattin Kaya erklärte dazu: „Wenn die Bundesrepublik Deutschland es ernst meint, und wenn sie ihren Teil dazu beitragen will, dass die historische Chance genutzt wird, dann gehört dazu aber auch, sich auf die Seite der Kräfte zu stellen, die den Frieden wollen. Und das heißt konkret für hier gesprochen: Die Verfolgungsermächtigung aufzuheben und die Denunzierung der PKK als terroristisch umgehend zu beenden.‘‘
Stattdessen hielt das Gericht dem Angeklagten seine Prozesserklärung zugute, indem es darin eine Einlassung sah, die eine umfangreiche Beweiserhebung abgekürzt hätte und so zu einer kurzen Verfahrensdauer und schließlich einer Strafaussetzung auf Bewährung beigetragen habe.
Die Verteidigung Selahattin Kayas erklärte dazu: „Die strafrechtliche Verfolgung ist einzustellen. Auch eine milde Verurteilung bleibt eine Verurteilung, und zwar von demokratischen Bestrebungen, wie dieser Fall erneut eindrücklich zeigt. Es bedarf daher nicht milderer Urteile, sondern die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung insgesamt muss beendet werden, um den Weg für Frieden und Demokratie freizumachen.“
AZADÎ: Entkriminalisierung von Akteur:innen des Dialogs
Der Rechtshilfefonds AZADÎ schließt sich der Auffassung der Verteidigung von dem Urteil an. Tatsächlich ist die sofortige und vollständige Beendigung der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung der effektivste Weg, um den Aufruf Abdullah Öcalans zu unterstützen und den Friedensprozess in Kurdistan aktiv zu fördern. Die PKK hat ihren Willen zum Frieden mehrfach unter Beweis gestellt. Ein klares Signal an die türkische Regierung wäre es, durch die Entkriminalisierung von Akteur:innen des Dialogs ernsthafte Verhandlungen zu ermöglichen und so den Weg für eine Demokratisierung der Türkei zu ebnen.
Von Italien ausgeliefert
Der Prozess gegen Selahattin Kaya hatte am 18. März 2025 begonnen. Er war am 12. Juni 2024 aufgrund eines europäischen Haftbefehls, der vom Generalbundesanwalt beantragt worden war, in Italien festgenommen und zwei Monate später an die Bundesrepublik ausgeliefert worden. Seitdem befand er sich in Untersuchungshaft, die mit der heutigen Verurteilung aufgehoben wurde.