Schweiz: Prozess gegen „Andi“ wegen Solidarität mit Rojava

Diese Woche steht Andrea S., Mitglied des Sekretariats der Roten Hilfe International und aktiv beim Revolutionären Aufbau, in Bellinzona vor Gericht. Im Zentrum des von der Türkei eingeklagten Verfahrens steht die Solidarität mit Rojava.

Kommenden Donnerstag muss Andrea S. alias „Andi“, Mitglied des Sekretariats der Roten Hilfe International (RHI) und aktiv beim Revolutionären Aufbau, vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona, dem höchsten Gericht der Schweiz, erscheinen. Im Zentrum dieses Prozesses steht ein Feuerwerksanschlag auf das türkische Konsulat in Zürich im Jahr 2017 aus Solidarität mit Rojava. In der Nacht auf den 18. Januar 2017 war das Gebäude an der Weinbergstraße mit pyrotechnischen Gegenständen beschossen worden. Dabei ging ein Fenster in die Brüche, Personen kamen keine zu Schaden. Trotz der späten Stunde sollen sich währenddessen zwei Konsulatsangestellte in der Botschaft aufgehalten haben. Sie hätten sich „sehr gefährdet“ gefühlt, gaben sie gegenüber der Polizei an.

Weil es sich nach offizieller Lesart um ein Sprengstoffdelikt handelte, wurden die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft übertragen. Doch diese entschied gleich mehrmals, das Strafverfahren zu „sistieren“ – auf Schweizer Amtsdeutsch: in der Schublade verschwinden zu lassen. Dagegen legte die türkische Führung in Ankara eine Beschwerde ein, die vom Bundesstrafgericht gutgeheißen wurde. Die Türkei hatte sich über die Untätigkeit der Schweizer Justiz beklagt und vom Gericht Recht bekommen. Deshalb musste die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen wieder aufnehmen.

Es ist nicht das erste Mal, dass das RHI-Sekretariat, Mitglieder oder Strukturen vor Gericht landen. „Aber dieser Prozess hat einen besonderen Charakter und wir möchten, dass die revolutionäre und internationalistische Linke versteht, was auf dem Spiel steht“, so die Rote Hilfe International. Es handele sich nicht um ein Verfahren gegen die RHI, sondern um einen Angriff auf Rojava.

Rojava hat einen besonderen Platz

„Zunächst einmal müssen wir bedenken, dass die Solidarität mit Rojava nicht einfach eine Pflicht von Internationalist:innen und Antifaschist:innen ist, die ein Volk unterstützen, das brutal unterdrückt wird. Rojava hat einen besonderen Platz an der globalen Frontlinie zwischen Revolution und Konterrevolution. Als authentisches Experiment, das im Laufe der Zeit neue Wege des Widerstands und der Selbstorganisation des Volkes erprobt, muss Rojava mit allen Mitteln verteidigt werden.

In der von der RHI veröffentlichten Studie über die türkische Strategie eines Krieges niedriger Intensität zur Vernichtung von Rojava und der kurdischen Befreiungsbewegung wurde festgestellt, dass ein Element dieser Strategie der Angriff auf die politische und organisatorische Unterstützung der Bewegung war.

Polizisten bewachen das türkische Konsulat in Zürich nach einer Farbattacke am 1. Mai 2017

In Europa erleben wir den Einsatz dieser spezifischen Offensive, die von Todesschwadronen bis hin zu konzertierten Troll-Kampagnen reicht, um Debatten in Internet-Chatrooms zu beeinflussen. Zwischen diesen beiden Extremen, zwischen gezielten Attentaten und den heimtückischsten Manifestationen von Soft Power, gibt es ein breites Spektrum von Aktionen, die darauf abzielen, die türkischen oder türkischstämmigen Gemeinschaften in Europa ‚in die Schranken zu weisen‘ und jegliche Unterstützung für die kurdische Sache zu lähmen.

Die Kräfte, die hier am Werk sind, sind vielfältig und spielen alle eine bestimmte Rolle: diplomatische Vertretungen, Moscheeprediger, lokale AKP-Strukturen, Geheimdienst-, Mafia- und faschistische Netzwerke, Geschäftsleute, die mit der Türkei Handel treiben, usw.

Eines der besonderen Ziele dieser Offensive ist die vollständige Kriminalisierung der kurdischen Befreiungsbewegung in Europa, d.h. die Unterdrückung der Solidarität durch die Polizei und die Justiz der europäischen Länder. Der Prozess gegen unsere Genossin ist ein typisches Beispiel dafür, denn er findet nur aufgrund des diplomatischen Drucks der Türkei statt. Dieser Druck erklärt sich durch die Rolle, die die Genossin in der internationalen Solidarität mit Rojava spielt. Es ist bemerkenswert, dass die Schweizer Bundesanwaltschaft mehrmals versucht hat, dieses Verfahren zu stoppen: entweder wegen der Schwäche des Falls (Mangel an Beweisen) oder weil sie andere Ermittlungen am Laufen hat. Der türkische Staat hat sich immer dagegen gewehrt und diesen Prozess gefordert und schließlich auch durchgesetzt.“

Prozess Teil einer vielschichtigen Offensive der Türkei

Die Polizei Zürich nutzte derweil die Gelegenheit, um eine neue Verurteilung von Andrea S. zu erwirken. Bei Lockdowns im Zuge der Covid-19-Pandemie habe die Behörde einen „Qualitätssprung“ gemacht, indem sie die Aktivistin bei Mobilisierungen „systematisch und präventiv“ verhaftete. „Die kantonalen Behörden nutzten den ‚türkischen Prozess‘, um Anklagepunkte wie die Nichteinhaltung der Covid-Vorschriften hinzuzufügen“, fasst die RHI zusammen.

Für die internationale Solidarität sei es jedoch wichtig, die Tatsache im Auge zu behalten, dass dieser Prozess Teil einer „allgemeinen und vielschichtigen türkischen Offensive“ gegen die Unterstützende der kurdischen Befreiungsbewegung sei und damit ein Element der Kriegsstrategie mit geringer Intensität, fordert die Rote Hilfe International. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es nicht notwendig, zwischen „schwerwiegenderen” und „weniger schwerwiegenden” Fällen zu unterscheiden. „Der Prozess von Bellinzona, wie auch das Aufstauen von Wasser durch türkische Staudämme am Euphrat für das durstige Rojava, wie auch der Einsatz von Giftgas durch türkische Kommandos in Irakisch-Kurdistan, wie auch die Schüsse auf HDP-Anhänger:innen in Griechenland Anfang Oktober, sind ergänzende Elemente einer globalen Strategie.“

Die Antwort der europäischen revolutionären Linken müsse ebenfalls diesen globalen, strategischen Charakter haben. Aus diesem Grund ruft die Rote Hilfe International als Reaktion auf das Erscheinen von Andrea S. vor der Schweizer Justiz zu Aktionen gegen den türkischen Faschismus auf.