Am 20. September 1992 wurde der kurdische Schriftsteller, Dichter und Journalist Musa Anter, der unter anderem auch bei den Zeitungen „Yeni Ülke“ und „Özgür Gündem“ mitarbeitete, in Amed (tr. Diyarbakir) ermordet. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen fast zwei Jahrzehnte lang verschleppte, kam es letztlich durch Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Susurluk-Ermittlungen und öffentlichen Druck durch Menschenrechtsorganisationen zu einer Anklage gegen die Täter. Weiterhin spielten jedoch sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht auf Zeit, um zu gewährleisten, dass die, die den Mord im Auftrag des türkischen Staates ausgeführt hatten, straffrei ausgehen. Dies zeigt auch deutlich die erneute Vertagung der Verhandlung durch die 6. Kammer des Hohen Strafgerichts in Ankara auf den 21. September 2022 – einen Tag nach Ablauf der Verjährungsfrist.
„Gefahr für die Pressefreiheit“
Die internationale Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) beobachtet diese Entwicklung mit Sorge, denn sie sieht darin eine grundlegende Gefahr für die Pressefreiheit und die Demokratie in der Türkei.
Aus Anlass des heutigen Prozesstages veröffentlichte die Organisation auf ihrer Internetseite eine Stellungnahme, in der sie die Behörden auffordert, gegen die Täter dieses brutalen Mordes vorzugehen, und betont, dass es dem Klima der Pressefreiheit in der Türkei weiter schaden würde, wenn die Verjährungsfrist in diesem Fall ablaufen würde.
„Es muss ein klares Signal gegen Gewalt an Journalisten gesetzt werden“
„Die Türkei steht kurz davor, diejenigen zu belohnen, die den Mord an dem Journalisten Musa Anter ungestraft begangen haben“, schreibt RSF in dem Statement. Dabei müsste anlässlich des 30. Jahrestages dieses brutalen Mordes eigentlich ein klares Signal gesetzt werden, dass Straflosigkeit bei Gewalt gegen Journalist:innen nicht geduldet wird. „Wir fordern die türkischen Behörden auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die Täter von Anters Ermordung zur Rechenschaft zu ziehen und den Fall als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten, damit die Verjährungsfrist aufgehoben und der Strafjustiz auch in diesem späten Stadium Genüge getan werden kann.“
Das Gericht hatte die Entscheidung bis heute immer wieder verschoben, weil in den Akten die Aussagen des nach Schweden geflohenen Doppelagenten Abdülkadir Aygan, des seit 1996 verschollenen Geheimdienstmitarbeiters Mahmut Yıldırım und des ehemaligen Hilfsagenten Hamit Yıldırım, dem einzigen Verdächtigen, der 2012 festgenommen worden war, aber im Juni 2017 unter Auflagen freigelassen worden war, fehlten.
Politisch beeinflusste Justiz
Im Mordfall Musa Anter sei die Verjährungsfrist bereits 2012 schon einmal umgangen worden, schreibt RSF. Nach 20 Jahren der Untätigkeit hätten die Behörden den Prozess „als Geste an die kurdische politische Bewegung zu Beginn der historischen Friedensgespräche mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ begonnen. Seit dem Abbruch der Friedensgespräche im Jahr 2015 sei das Gerichtsverfahren jedoch ins Stocken geraten.
Weiter schreibt die Organisation: „Obwohl der türkische Staat 1998 seine Beteiligung an der Ermordung von Anter einräumte und sein Bedauern ausdrückte, scheint es derzeit unwahrscheinlich, dass Gerechtigkeit geübt wird. Dieser Fall ist ein konkreter Hinweis darauf, dass das Gerichtsverfahren in der Türkei politisch beeinflusst wurde, sowohl was den Zeitpunkt der Entwicklungen bei den Ermittlungen als auch den Zeitpunkt der Verzögerungen betrifft.“
RSF fordert Gerechtigkeit für Musa Anter
Die internationale Organisation für Presse und Informationsfreiheit, RSF, fordert die türkische Justiz auf, im Fall Musa Anter für Gerechtigkeit zu sorgen, frei von jeglichem politischen Einfluss. „In der Türkei, wo seit den 1990er Jahren fast 40 Journalisten getötet wurden oder verschwunden sind, ist die Straffreiheit für Verbrechen gegen Journalisten nach wie vor ein alarmierend häufiges Problem.
Bei rund 20 Morden, die sich zwischen 1990 und 1996 in Südostanatolien ereigneten, herrscht noch immer völlige Straflosigkeit. In anderen Fällen wurden die Kollaborateure, Anstifter oder Drahtzieher der Morde nicht vor den Richter gebracht“, klagt die Organisation in ihrer Stellungnahme an.
Die Türkei steht auf dem RSF-Weltindex für Pressefreiheit 2022 auf Platz 149 von 180 Ländern.