Vor der 6. Kammer des Strafgerichts in Ankara wurde heute der Mord an Musa Anter im Jahr 1992 zusammen mit zwei weiteren Anklagepunkten verhandelt. An der Sitzung nahmen neben Musa Anters Sohn Dicle Anter als Nebenkläger auch die HDP-Abgeordneten Fatma Kurtulan, Kemal Peköz und Abdullah Koç, der CHP-Abgeordnete Yıldıray Kaya sowie Vertreter:innen des Menschenrechtsvereins IHD, des Gewerkschaftsbunds der Angestellten im öffentlichen Dienst (KESK) und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen als Prozessbeobachter:innen teil.
Staatsanwaltschaft verschleppt Ermittlungen
Musa Anter, auch Apê Musa genannt, der für sein Wirken als mutiger Verfechter der kurdischen Identität und Kultur vom kurdischen Volk geliebt wurde, war am 20. September 1992 in Amed (tr. Diyarbakir) im Alter von 74 Jahren durch Schüsse aus einem Maschinengewehr auf offener Straße ermordet worden. Obwohl spätestens aus den Protokollen der Susurluk-Ermittlungen bekannt war, dass der türkische Staat für den Mord an Musa Anter verantwortlich war, wurde die Akte über Jahrzehnte hinweg nicht bearbeitet, da angeblich kein Täter ermittelt werden konnte. Erst 2013 wurde Anklage erhoben. Während des gesamten Prozesses war jedoch zu beobachten, dass die Anklage auf Zeit spielte, um doch noch eine Verjährung und damit die Straflosigkeit der Täter zu erreichen.
Angeklagte nicht mehr greifbar
Angeklagt wurden unter anderen Hamit Yıldırım und Abdulkadir Aygan, Ex-Mitarbeiter des türkischen Millitärgeheimdienstes JITEM, der für viele der so genannten „Morde unbekannter Täter“ sowie schwerste Menschenrechtsverletzungen, Folterungen und Verschleppungen vor allem in den 1990er Jahren verantwortlich ist. Beide Angeklagte sind jedoch niemals vor Gericht erschienen. Abdulkadir Aygan lebt seit Jahren im schwedischen Exil, Hamit Yıldırım war 2012 verhaftet und nach fünf Jahren mit Verweis auf eine zu lange Untersuchungshaft freigelassen worden. Seinen Meldeauflagen ist er nie nachgekommen. Er erschien auch an diesem Prozesstag nicht vor Gericht, was seine Verteidigung mit gesundheitlichen Problemen begründete.
„Wir werden auf internationaler Ebene weiterkämpfen“
Öztürk Türkdoğan, Ko-Vorsitzender des IHD und Anwalt der Nebenklage, äußerte vor Gericht seine Sorge darüber, dass der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder Musa Anters nun doch aufgrund der Verjährungsfrist straffrei ausgehen könne. Weiter führte er aus: „Der Prozess wird trotzdem nicht so einfach zu beenden sein, denn es existiert ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Bei Einsicht in die parlamentarischen Untersuchungsberichte zu den ,Morden unbekannter Täter' aus dem Jahr 1995 fand ich auch eine Erwähnung des Mordes an Musa Anter. In dem Bericht konnte ich lesen, dass das Ziel gewesen sei, Angst unter den Kurden zu verbreiten. Auch gegen den Vorsitzenden des Staatssicherheitsgerichts werden in dem Bericht Anschuldigungen erhoben. Die Forderungen aus dem Untersuchungsbericht wurden nicht erfüllt, aber immerhin konnten wir erreichen, dass überhaupt ein Prozess eröffnet wurde. Wenn die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist, wird ein Gericht darüber zu entscheiden haben, aber es wird wohl erneut durch die Einstellung des Prozesses nach Ablauf der Verjährungsfrist zu einer Rechtsverletzung führen. Wir fordern die Vervollständigung der Akten sowie die Befragung von Abdülkadir Ayhan. Wir fordern die Fortsetzung des Prozesses.“
Der Nebenkläger Dicle Anter protestierte gegen die erneute Vertagung auf ein nach dem Ablauf der Verjährungsfrist gelegenes Datum: „Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir werden auf internationaler Ebene weiterkämpfen!“
„Für uns ist der Prozess nicht vorbei“
Im Anschluss an die Verhandlung fand in den Räumlichkeiten des IHD in Ankara eine Pressekonferenz statt, auf der Öztürk Türkdoğan feststellte, dass das Gericht heute seine wahre Absicht offengelegt habe: „Wir haben das Gericht darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt und es den Prozess nicht wegen Verjährung fallen lassen dürfe. Außerdem fordern wir die Abtrennung der Anklage zum Mord an Musa Anter von den anderen Fällen.“
„In diesem Land passieren alle möglichen Rechtsverstöße“
Dass die Aussage von Abdülkadir Aygan noch immer nicht aufgenommen wurde, sei ein deutlicher Hinweis auf die Bestrebungen der Anklage, den Mord an Musa Anter straffrei zu belassen, führte Türkdoğan weiter aus: „Ein Vorgang, der innerhalb weniger Tage erledigt sein könnte, wird verschleppt. Das Recht auf Wahrheit ist sehr wichtig. Es ist fest verknüpft mit dem Recht auf Gerechtigkeit. Ist es nicht normalerweise die Aufgabe eines Strafgerichts, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Ein Land, das keinen Wert auf das Aufdecken der Wahrheit legt, ist ein antidemokratisches Land und hat ein großes Problem. Es ist ein Land, in dem alle möglichen Rechtsverstöße möglich sind. Wir wollen, dass die Machenschaften der fest im Staat verankerten Banden lückenlos aufgeklärt werden und die Täter ihre verdiente Strafe bekommen. Wir wollen Wahrheit und Gerechtigkeit!“
„Verbrechen dieser Art dürfen nicht verjähren!“
Auch Dicle Anter, der Sohn des ermordeten Schriftstellers, forderte, dass solche Verbrechen nicht verjähren dürften: „Wir haben heute vor Gericht unsere Forderungen erneut gestellt und mehrfach darauf hingewiesen, dass der Angeklagte Hamit Yıldırım sich nicht an seine Auflagen gehalten hat. Morde unbekannter Täter haben Tradition in der Türkei. Seit dem Mord an Mustafa Suphi [Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Türkei von 1920 bis 1921] zieht sich eine lange Reihe durch die türkische Geschichte. Der Prozess um die Ermordung Musa Anters soll ein Spiegel sein, in dem diese Wahrheit sichtbar wird. Es handelt sich um einen Prozess, der auch ein erhellendes Licht auf andere Fälle wirft. Darum denke ich, dass er für die Türkei sehr wichtig ist.“