„Respektlosigkeit und Ignoranz gegenüber Überlebenden des Genozids“

„Das Verbot der êzîdischen Partei PADÊ im Irak ist an Respektlosigkeit und Ignoranz gegenüber den Überlebenden des Genozids vom 3. August 2014 kaum zu überbieten“, erklären SMJÊ und NAV-YEK. Die ezidischen Verbände fordern Grundrechte ein.

Grundrechte und Freiheiten der Êzîdinnen und Êzîden

Der Dachverband der êzîdischen Frauenräte in Deutschland e.V. (SMJÊ) und der Zentralverband der êzîdischen Vereine e.V. (NAV-YEK) verurteilen das Verbot der PADÊ im Irak. „Die Justiz der irakischen Zentralregierung hat die êzîdische Partei PADÊ (Partiya Azadî û Demokrasiya Êzîdiya – Partei der Freiheit und Demokratie der Êzîden) am 5. August 2024 verboten. Die Ausrufung dieses Verbots ist an Respektlosigkeit und Ignoranz gegenüber den Überlebenden des Genozids vom 3. August 2014 kaum zu überbieten“, erklärten die Verbände am Dienstag in einer Mitteilung.

Die Verbotsverfügung sei Teil der Politik, mit der seit einigen Jahren versucht werde, „den Status quo Şengals von vor dem Genozid wiederherzustellen. Jener Status, der erst den Genozid ermöglichte und einen weiteren ermöglichen kann“. Weiter heißt es in der Stellungnahme der Verbände SMJÊ und NAV-YEK:

„Dazu zählt, dass die irakische Zentralregierung und die Autonomieregierung Kurdistans im Nordirak gemeinsam (unter Mitwirkung der Türkei) das Abkommen vom 9. Oktober 2020 geschlossen haben. In die Verhandlungen zu diesem Abkommen wurde die überlebende Bevölkerung Şengals nicht miteinbezogen. Das Abkommen sieht vor, dass sich Şengal administrativ und militärisch der irakischen Zentralregierung und der autonomen Region Kurdistan unterordnet und anschließt. Dazu zählt auch, dass sowohl die irakische Zentralregierung als auch die autonome Region Kurdistan schweigen, wenn der türkische Staat Şengal bombardiert und dabei kritische Infrastruktur, politische und religiöse Persönlichkeiten, Journalist:innen und Zivilist:innen ins Visier nimmt.

Irak lässt sich zum Spielball des türkischen Staates machen“

Die überlebende êzîdische Bevölkerung ist nach dem Genozid und Femizid vom 3. August 2014 und der Befreiung Şengals am 13. November 2015 wieder in ihre Heimat zurückgekehrt und hat seitdem mit dem Wieder- und Neuaufbau ihrer Heimat und ihrer Gesellschaft begonnen. Sie gründeten eigene Verteidigungseinheiten, organisierten sich in Kommunen und Räten, bildeten Arbeitsgruppen in Form von Kommissionen und arbeiten an einer kooperativen Landwirtschaft.

Die irakische Zentralregierung, in Kooperation mit der Autonomieregierung Kurdistans im Nordirak und dem faschistisch-islamistischen türkischen Staat, möchte den Êzidînnen und Êzîden nun diese Errungenschaften aus den Händen reißen und sie wieder vollkommen abhängig von äußeren Mächten machen.

Wir verurteilen diese Politik. Wir bewerten das Vorgehen der irakischen Zentralregierung und ihrer Justiz als eine Fortsetzung des Genozids und fordern sie auf, sich nicht zum Spielball des türkischen Staates machen zu lassen und anzufangen, den Genozid anzuerkennen und die eigene Verantwortung aufzuarbeiten. Dazu zählt auch, die Grundrechte und Freiheiten der Êzîdinnen und Êzîden zu wahren und zu fördern und Täter, Kollaborateure und Komplizen zur Rechenschaft zu ziehen.“

Hintergrund: Forderungen für Şengal

Der Dachverband der êzîdischen Frauenräte in Deutschland e.V. (SMJÊ) und der Zentralverband der êzîdischen Vereine e.V. (NAV-YEK) stellen sechs grundlegende Forderungen für Şengal, die im Vorfeld des diesjährigen Völkermordgedenkens am 3. August wie folgt formuliert wurden:

1. Selbstverwaltung im Einklang mit der Verfassung

Der Irak hat eine Verfassung, die die Rechte und Freiheiten der im Lande lebenden Bevölkerungsgruppen garantiert. Gemäß den Artikeln 116, 117, 122 und 125 der geltenden Verfassung hat jede ethnische und religiöse Gruppe im Irak das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Die Ezid:innen haben nach dem Genozid vom 3. August 2014 eine eigene Selbstverwaltung aufgebaut, die anerkannt werden muss.

2. Der Völkermord muss offiziell anerkannt werden

Die ezidische Gemeinschaft ist ein wichtiger Bestandteil der irakischen Gesellschaft und ihre Verteidigung obliegt der irakischen Regierung. Der irakischen Regierung wurde kürzlich ein Resolutionsentwurf zum Völkermord vorgelegt. Über diesen Entwurf muss jetzt im Parlament abgestimmt werden. Nur wenn die irakische Regierung dieses Massaker an der irakischen Bevölkerung im Allgemeinen und an der Bevölkerung von Şengal im Besonderen offiziell anerkennt, können Stabilität, Frieden und Sicherheit in Şengal gewährleistet und eine ausländische Intervention verhindert werden.

3. Juristische Verfolgung der Täter

Das irakische Bundesgericht wird aufgefordert, diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die die politische, administrative und militärische Verantwortung für den Völkermord tragen. Das gilt insbesondere für die Entscheidungsträger der PDK („Demokratische Partei Kurdistans“), die mit dem Abzug der Peschmerga aus Şengal dem IS den Weg freigemacht haben. Die von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) angekündigten Prozesse gegen internierte IS-Mitglieder müssen von der irakischen Regierung und dem Bundesgericht unterstützt werden. Überlebenden Ezid:innen muss ermöglicht werden, als Zeug:innen an diesen Verfahren teilzunehmen.

4. Alle Massengräber müssen geöffnet werden

In Şengal wurden 83 Massengräber mit Opfern des Völkermords gefunden, aber nur 46 von ihnen wurden geöffnet. Alle Massengräber müssen geöffnet und die Leichen identifiziert und ihren Angehörigen übergeben werden.

5. Das Abkommen vom 9. Oktober 2020 muss annulliert werden

Obwohl die autonome Verwaltung von Şengal und ihre politischen Parteien in den letzten neun Jahren Gespräche mit der irakischen Regierung geführt und verschiedene Projekte zur Lösung der politischen, administrativen und sicherheitspolitischen Probleme vorgelegt haben, hat die irakische Regierung keine ernsthaften Schritte unternommen. Stattdessen hat sie, ohne den Willen der ezidischen Gemeinschaft zu berücksichtigen und unter dem Druck des türkischen Staates, der PDK und internationaler Mächte, mit dem Abkommen vom 9. Oktober 2020 den Weg für eine ausländische Intervention in Şengal und im Irak geebnet. Dieses Abkommen dient nicht den Interessen der ezidischen Gemeinschaft und der Bevölkerung des Irak. Es muss aufgehoben und durch ein Abkommen mit den Vertreter:innen der Selbstverwaltung von Şengal ersetzt werden.

6. Wiederaufbau und Rückkehr

Nach dem Völkermord von 2014 verblieben nur noch etwa 10.000 Ezid:innen in Şengal. Derzeit leben etwa 200.000 Ezid:innen in den Ebenen und Bergen der Region. Eine der größten Errungenschaften der Autonomieverwaltung ist die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat. Die irakische Regierung wird aufgefordert, mit der Autonomieverwaltung Şengals zusammenzuarbeiten und die notwendigen Einrichtungen bereitzustellen, um die Rückkehr der verbleibenden Vertriebenen zu beschleunigen. Auch die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Selbstverwaltung von Şengal zu unterstützen und die verfassungsmäßigen Rechte der ezidischen Gemeinschaft zu garantieren.

Foto: Völkermordgedenken in Saarbrücken, 3. August 2024