Reisebericht aus Rojava: Zwischen Aggression und Selbstverwaltung

In Hamburg fand eine gut besuchte Podiumsdiskussion statt, auf welcher Teilnehmer*innen einer kürzlich stattgefundenen Delegationsreise in den Norden Syriens von ihren Erlebnissen berichteten.

Das Thalia-Theater wurde bereits kurz nach Beginn der türkischen Invasion in Efrîn Schauplatz des Konfliktes, an welchem die Bundesregierung einmal mehr ihre schon historisch verwurzelte Mitverantwortung demonstrierte. Am 26. Januar 2018 unterbrach die Interventionistische Linke eine Veranstaltung mit Sigmar Gabriel, um diesen auf die Waffendeals zwischen der Türkei und Deutschland zu befragen. Seine Antwort, es gebe keine dergleichen in den letzten Jahren, entpuppte sich kurze Zeit später als dreiste Lüge.

Mit dieser Rekapitulation der Ereignisse vom Januar begann am Freitagabend eine Veranstaltung, die sich der Eindrücke und Erfahrungen einer Delegation widmete, welche Ende Mai die Demokratische Föderation Nordsyrien besuchte. Um die 80 Menschen füllten das Nachtasyl, eine Spielstätte des Thalia-Theaters in der Hamburger Innenstadt, bis auf den letzten Platz. Der Eintritt selbst war frei, stattdessen wurden Spenden für die Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurdistanê, der Kurdische Rote Halbmond, gesammelt.

Auf dem Podium berichteten der Filmemacher Peter Ott, die Hamburger Bundestagsabgeordnete Zaklin Nastic (DIE LINKE), die Journalistin Evrim Kaya und Yavuz Fersoğlu von NAV-DEM. Die Moderation leitete Emily Laquer von der Interventionistischen Linken.

„Gezieltes Massaker an der Zivilbevölkerung“

Nach der Einführung wurde zunächst Filmmaterial gezeigt, welches Peter Ott in Rojava drehte und neben Gesprächssituationen auch Eindrücke der Städte und Menschen wiedergab.

Gespräche mit geflüchteten Frauen aus Efrîn zeugten von der Brutalität und Barbarei, welche die Menschen bei dem Angriff der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Verbündeten zu erleiden hatten. Es sei ein gezieltes Massaker an der gesamten Zivilbevölkerung gewesen, berichten die Frauen. Die Berichte widersprechen der Propaganda des Erdoğan-Regimes, indem sie beweisen, dass bei den Angriffen keine Unterschiede zwischen Zivilisten und Militär gemacht wurden.

Die Faszination der Selbstverwaltungsstrukturen

Peter Ott, der für seinen Film „Das Milan-Protokoll“ immer wieder längere Zeit in Südkurdistan verbrachte, zeigte sich besonders fasziniert vom Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen, aufgeführt von einer Gesellschaft, die es als ihr Projekt begreift, frei und basisdemokratisch eine Alternative aufzubauen.

Diese Begeisterung für den Aufbau teilte auch Yavuz Fersoğlu vom kurdischen Dachverband NAV-DEM. Er betonte, dass der Kampf die Menschen motiviere, etwas Schönes aufzubauen. Und dies zeige sich im gesamten Aufbau, dessen Fortschritt ihn seit seinem letzten Besuch 2015 positiv überrascht habe. Die Motivation liege darin, dass die Menschen aller Ethnien es als ihre eigene Sache begreifen.

Keine Befreiung ohne Frauen

Die Befreiung der Gesellschaft wird aber niemals ohne die Befreiung der Frau möglich sein. Dieses grundlegende Prinzip lässt sich in der Gleichstellung von Frauen und Männern in den Strukturen ablesen, wie auch die menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Zaklin Nastic, anmerkte. Sie hob hervor, dass die kämpferischen Frauen in Rojava einen Kampf für die gesamte Zukunft der Frau führen.

Grenzmauer als Ausdruck von Aggression und Angst

Die Mauer, die die türkische Regierung entlang der Grenze errichten ließ, kannte Evrim Kaya bis zu ihrer Reise nach Rojava nur von der türkischen Seite. Die Mauer sei ein Ausdruck der Aggressivität, aber besonders der Angst und Furcht, die das türkische Regime vor den Menschen hat, so die Journalistin. Denn diese Menschen stellten eine Lösung für die Probleme im Mittleren Osten dar: für die Kriege und die Krise der Nationalstaaten. Weiterhin berichtete sie von einem Gespräch, dass sie besonders berührte. Auf die Frage, was den Menschen am besten gefalle, antwortete eine Frau, dass es die Sprache sei: Die kurdische Sprache, die somit zum Ausdruck einer neuen Kultur, einer neuen Gesellschaft werde.

„In Rojava gibt es so viel zu lernen“

Die zweite Runde auf dem Podium richtete den Fokus auf die Situation in Deutschland und auf die Frage, was die Teilnehmer*innen von ihrer Reise mitnehmen. Zaklin Nastic hob die Verantwortung hervor, die die Bundesregierung nicht erst durch die Waffenlieferungen am Krieg Erdoğans tragen würde. Die Kooperation habe eine lange Tradition, wirtschaftliche Verflechtungen und der EU-Türkei-Deal würden weiterhin dazu beitragen, dass auf das Streben der Menschen nach Freiheit mit Waffengewalt reagiert werde. Wer dazu schweige, mache sich mitschuldig, so die Bundestagsabgeordnete.

Yavuz Fersoglu zog den Bogen zur die Kriminalisierung, der die kurdische Freiheitsbewegung auch in Deutschland ausgesetzt ist. Die Instrumente, die schon seit den 1990ern seitens der Herrschenden eingesetzt werden, würden sich früher oder später gegen alle richten, die die demokratischen Werte teilen.

Die Journalistin Evrim Kaya nutzte wieder die Sprache als Metapher, um zu appellieren, dass die Sprache der Ehrlichkeit und der Demokratie, die den Norden Syriens prägt, auch hier gesprochen werden müsse.

Von den Menschen dort gäbe es so viel zu lernen, betonte Peter Ott. Besonders gelte es, die europäischen Werte kritisch zu hinterfragen und sich nicht selbst zu überhöhen. Die Menschen müssten auch hier ein Bewusstsein entwickeln, nur so ließe sich der Kampf gewinnen.

Zum Abschluss wurden Fragen aus dem Publikum gestellt und gemeinsam diskutiert. Aus der Stimmung heraus entwickelten sich Aufrufe und Forderungen nach mehr Solidarität unter allen Menschen, für die es künftig noch lauter zu kämpfen gilt.