Prozesstag im Kobanê-Verfahren beginnt im Belagerungszustand

Vor dem Beginn des zweiten Prozesstages im Kobanê-Verfahren in Ankara ist der Gefängniskomplex Sincan, in dem die Verhandlung stattfindet, massiv abgeriegelt worden. Journalist:innen werden an der Prozessbeobachtung gehindert.

Der zweite Prozesstag im Kobanê-Verfahren beginnt im Belagerungszustand. Das Verfahren, in dem 108 Politiker:innen der HDP und weitere Personen zu vielfach lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden sollen, findet auf dem Gelände des Gefängniskomplexes Sincan statt. Unter den 28 inhaftierten Angeklagten befinden sich unter anderem die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Das Gelände ist sowohl nach innen wie auch nach außen komplett abgeriegelt. Kurz vor Beginn der Verhandlung wurden die Anwält:innen, Abgeordneten und Besucher:innen aufgehalten, weil angeblich nach einer Bombe gesucht wurde. Erst nach entschlossenem Beharren wurden die Prozessbeobachter:innen ins Gebäude gelassen.

Der Gerichtssaal ist voll besetzt mit Polizei. Zuschauer:innen, Angehörige und Nebenkläger:innen müssen in einem Nebenraum Platz nehmen. Oppositionelle Journalist:innen wurden nicht in den Gerichtssaal gelassen. Auch die Mitnahme von Computern oder Telefonen wurde verboten.

EU-Delegation beobachtet das Verfahren

Neben dem Ko-Sprecher des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), Sedat Şenoğlu, beobachten der Ko-Vorsitzende der Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP), Şahin Tümüklü, und etliche Abgeordnete der HDP das Verfahren. Begleitet wird der Prozess auch von der Türkeidelegation der Europäischen Union.

Von den Angeklagten nehmen Figen Yüksekdağ im Gefängnis Kandira und Selahattin Demirtaş in Edirne über eine Videoschaltung an der Verhandlung teil. Im Gerichtssaal anwesend sind Sebahat Tuncel, Ayla Akat Ata, Ayşe Bağcı, Bircan Yorulmaz, Sibel Akdeniz und Pervin Oduncu, die ebenfalls inhaftiert sind. Aysel Tuğluk, die in Kandira inhaftiert ist, nimmt aus gesundheitlichen Gründen nicht teil. Die anderen inhaftierten Angeklagten werden aus den jeweiligen Gefängnissen per Vido zugeschaltet. Der ehemalige Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder, der während der Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage als Sprecher der Imrali-Delegation fungierte und momentan nicht im Gefängnis ist, nimmt aus Istanbul über Videoschaltung an der Verhandlung teil. Der abgesetzte Bürgermeister von Mêrdîn (Mardin), Ahmet Türk, sowie der ehemalige HDP-Abgeordnete Altan Tan, nehmen nicht teil.

Kobanê-Verfahren – Rache für Niederlage des IS

Angeklagt sind in dem Verfahren 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung. Ihnen wird zur Last gelegt, zu den Protesten gegen den IS-Angriff auf Kobanê und die türkische IS-Unterstützung aufgerufen zu haben. Im Zuge des Aufstands kam es in vielen Städten zu Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrant:innen. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Diese Toten werden nun den 108 Angeklagten zur Last gelegt. Unter diesem juristischen Konstrukt fordert die Staatsanwaltschaft Urteile wegen „terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen“. Betroffen ist vor allem der damalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.