In Wien rufen kurdische Strukturen, linke migrantische Gruppen aus der Türkei und die Kampagne Rise Up 4 Rojava für den 31. Oktober um 17 Uhr zu der Demonstration „Rojava verteidigen - Die Freiheit verteidigen!“ auf. Das Bündnis wird unter anderem von der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) und vom Wiener Jugendrat unterstützt. Nach der Demonstration wird eine Feier im Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) stattfinden. In dem Aufruf heißt es:
Auf die Straße zum Welt-Kobanê-Tag
Im September 2014 erschüttert der Vormarsch der IS-Terrormiliz den Mittleren Osten und die ganze Welt. Die mit US-Waffen aus irakischen Beständen und mit türkischer Unterstützung hochgerüstete Terrororganisation richtet nach der kampflosen Einnahme der irakischen Millionenstadt Mossul ihr Augenmerk auf Nordsyrien (kurdisch: Rojava) und den radikaldemokratischen Aufbruch, der dort stattfindet. Bereits die Hälfte des syrischen Staatsgebietes ist zu diesem Zeitpunkt in der Hand des IS, von Raqqa aus will das selbsternannte Kalifat den Norden Syriens einnehmen. Dort ist seit 2012 die Revolution von Rojava im Gange. Der IS will vor allem die Hauptstadt der radikaldemokratischen Revolution: Kobanê. Die Stadt ist strategisch wichtig, auch weil sie an der Grenze zur Türkei liegt, über die der IS materiell versorgt wird.
Weil die Selbstverwaltung Rojavas für die Türkei den Hauptfeind darstellt und auch von den übrigen NATO-Staaten abgelehnt wird, wird Kobanê von den internationalen Kräften, die gegen den IS kämpfen, aufgegeben. Was viele als Verrat wahrnehmen, ist keiner, es ist nur daily Business der imperialistischen Kräfte, nur eine Bewegung auf dem Schachbrett. Aber in den Straßenzügen Kobanês leben Menschen, die nicht aufgeben, trotz mangelnder Unterstützung und dem Bewusstsein über die Brutalität des IS.
Kobanê als Wendepunkt
Trotz der schlechten Ausrüstung und mangelnder Unterstützung der USA, die erst durch internationale Proteste dazu gebracht wird, Luftschläge gegen den IS zu fliegen, bildet der Widerstand von Kobanê den entscheidenden Wendepunkt im Kampf um Nordsyrien. In 134 Tagen Kampf um jeden Quadratmeter der Stadt schlagen die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten der basisdemokratischen Selbstverwaltung, YPG und YPJ, den IS zurück. In Solidarität mit den Menschen, die damals den Kampf um eine freiheitliche und demokratische Welt gewonnen haben, wird der 1. November als internationaler Welt-Kobanê-Tag ausgerufen. Kobanê ist dabei nicht nur Symbol für den Sieg über den Terror des IS, sondern auch für den Sieg über Patriarchat, Kapitalismus und gegen die Unterdrückung von ethnischen Gruppen. Kobanê ist Ausdruck eines lebendigen Widerstandes und ein Symbol dafür, dass in den Trümmern des Alten Neues entstehen kann. Zumindest dann, wenn es eine organisierte Kraft gibt, die dazu Anstöße gibt, die neue Strukturen aufbaut und die dazu in der Lage ist, sie zu verteidigen.
In Kobanê sowie auch an anderen Orten in Rojava schuf die kurdische Freiheitsbewegung mit Abdullah Öcalan und anderen Kadern der kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK mit jahrelanger Basisarbeit im Untergrund das Fundament dafür, dass im richtigen Moment Neues an die Oberfläche kommen konnte. Ihre Arbeit machte es möglich, dass ab 2012 im Windschatten des Krieges um Syrien Frauen- und Volksräte entstanden – und militärische Selbstverteidigungsstrukturen wie die YPG und YPJ. Mit der Befreiung von Raqqa und anderen Städten und Gegenden Nordostsyriens, die mehrheitlich arabisch sind, ist die kurdische Freiheitsbewegung über sich selbst hinausgewachsen: sie ist zu einer Bewegung geworden, in der auch Araber:innen und viele andere Menschen für ein neues Leben kämpfen.
System Change
Rojava ist keine befreite Gesellschaft und keine Utopie. Rojava ist wie jeder Versuch, ein anderes Leben aufzubauen, mit dem Charakter ihrer Gesellschaft behaftet, aus der heraus er entstanden ist. Patriarchale Strukturen und die Unterteilung der Gesellschaft in Klassen sind nach wie vor überall spürbar, der Unterschied ist allerdings, dass es gesellschaftliche Strukturen gibt, die dazu in der Lage sind, diesen Zustand aufzuheben. In allen Teilen Nordostsyriens entstehen autonome Frauenstrukturen, Frauenhäuser, Volksräte und Kooperativen. Sie sind die Keimzellen eines neuen Lebens, einer solidarischeren Welt.
Diese Keimzellen sind über Nordostsyrien hinaus bedeutend, weil überall auf der Welt Menschen auf der Suche nach Antworten auf die Frage sind, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, die in der Lage ist, die Krisen, die uns bedrohen, zu lösen. Die Krisen einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen verarmen, weil sie die Gasrechnungen oder die Mieten nicht mehr zahlen können. Die Krisen einer Gesellschaft, in der regelmäßig Frauen von Männern ermordet werden. Einer Gesellschaft, die es nicht einmal schafft, die menschengemachte Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, was den Tod von Millionen und die Flucht von vielen weiteren zur Folge haben wird. Einer Gesellschaft, die diejenigen, die fliehen, im Meer ertrinken lässt. Und nicht zuletzt einer Welt, die immer tiefer in den dritten Weltkrieg hineinschlittert.
Die Krisen fordern ein neues System. In Rojava entstehen Ideen, wie dieses System aussehen kann: Radikal demokratisch, feministisch und ökologisch. Deshalb ist die Rojava-Revolution auch unsere Revolution.
Die Freiheit verteidigen
In dieser Welt und im Land, in dem wir leben, ist viel von Freiheit die Rede. Aber die Freiheit, von der Politiker:innen, Werbungen, Unternehmer und die Herrschenden reden, hat mit dem, was wir unter Freiheit verstehen, wenig zu tun. Denn was sie meinen, wenn sie Freiheit sagen, ist Individualismus, die „Freiheit“ zwischen einem möglichst großen Sortiment im Supermarktregal zu wählen, die „Freiheit“ der Reichen, auf unsere Kosten zu leben und sich ein dickes Auto leisten zu können. Ihre „Freiheit“ ist antisozial, sie geht auf Kosten unserer ökologischen Überlebensgrundlagen und auf Kosten gesellschaftlicher Verantwortung. Was wir meinen, wenn wir Freiheit sagen, ist das Gegenteil: Wir sind der Überzeugung, dass Freiheit nur im Kollektiv möglich ist, nur wenn wir uns gegenseitig stützen, nur wenn niemand von uns in Armut leben muss. Denn Armut ist das Gegenteil von Freiheit, Armut bedeutet Abhängigkeit. Freiheit kann es also nur geben, wenn wir Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, in der wir leben, wenn wir solidarisch sind.
Die Freiheit, für die unsere Feund:innen in Rojava kämpfen, ist auch unsere Freiheit. Der permanente Krieg des türkischen Regimes und der von ihm unterstützten Islamisten-Söldner gegen Rojava ist deshalb auch ein Angriff auf uns. Es ist ein Angriff auf die Freiheit. Lasst sie uns verteidigen!
Rojava steht unter Dauerfeuer. Fast jeden Tag schlagen Raketen und Mörsergranaten ein, fast jeden Tag werden Menschen durch Angriffe aus dem Leben gerissen, durch Artillerie, durch Drohnenterror und Anschläge islamistischer Schläferzellen. Der Krieg richtet sich dabei aber nicht nur gegen Rojava, sondern auch gegen die Berge Südkurdistans und damit gegen die Stützpunkte der PKK-Guerilla und ihrer Unterstützer:innen. Und nicht zuletzt auch gegen die Opposition und alle demokratischen Kräfte innerhalb der Türkei. Es ist ein Krieg, der keine Moral kennt. Er zerstört strategisch die ökologischen Überlebensgrundlagen durch Bombardements und Giftgas, steckt Wälder in Brand, brennt Felder nieder und baut riesige Staudämme, die den Menschen in Rojava, in Südkurdistan, in Syrien und im Irak das Wasser abschneiden.
Und Österreich?
Österreich ist Teil dieses Krieges gegen Mensch und Natur. Dadurch, dass auch österreichische Konzerne immer wieder Kriegsgerät an die Regime des Mittleren Ostens geliefert haben, Kriegsgerät, das auch gegen die Freiheitsbewegung eingesetzt wird. Dadurch, dass Wien die Bühne für Treffen der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) bietet, bei der die Türkei für ihren Krieg gegen den Terror Werbung machen kann, der in Wahrheit ein Krieg gegen die Freiheit ist. Und dadurch, dass sich die österreichische Regierung dem türkischen Regime zunehmend annähert: in den letzten Monaten trafen hochrangige Politiker wie Nehammer, Ludwig und van der Bellen Vertreter des türkischen Regimes, um die türkisch-österreichischen Beziehungen zu verbessern. Zu den Bomben auf Kurdistan haben sie natürlich geschwiegen. Wenn wir sagen, dass wir Rojava verteidigen wollen, dass wir die Freiheit verteidigen wollen, dann heißt das für uns, dass wir dieses Schweigen brechen!
Es heißt, dass wir die Verantwortlichen identifizieren, Nachschublinien stoppen und alles dafür tun werden, dass Österreich seine Unterstützung für den Krieg des türkischen Regimes einstellt! Und es heißt, dass wir die Befreiung von Kobanê für den lebendigen Widerstand und den Sieg über Faschismus, Islamismus, Kapitalismus und Patriarchat feiern! Kommt mit uns am 31. Oktober auf die Straße! Bijî berxwedana Kobanê, es lebe der Widerstand in Kobanê.