Politischer Vernichtungsfeldzug: 19 Verhaftungen in Tekirdağ

Im westtürkischen Tekirdağ sind 19 Politikerinnen und Politiker der HDP im Zuge der „HDK-Ermittlungen” verhaftet worden. Sie werden beschuldigt, „im Sinne der Ziele von PKK und KCK“ und „gegen den Staat“ zu handeln.

Nach dem Erfolg der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2009 setzte eine bis heute andauernde Massenfestnahme- und Verhaftungswelle gegen Aktive der kurdischen Politik und Zivilgesellschaft ein. Betroffen sind gewählte Amts- und Mandatstragende, Parlamentsabgeordnete, Parteivorstände, Menschenrechtler:innen, Medienschaffende, Anwält:innen, Gewerkschafter:innen und Intellektuelle. 2012 wurden die Verhaftungen auf türkische Linke, die am Aufbau des „Demokratischer Kongress der Völker“ (HDK) – und damit dem türkeiweiten Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem die HDP hervorgegangen ist – beteiligt waren, ausgeweitet. Seit dem einseitigen Abbruch der Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 dreht die AKP unermüdlich an der Repressionsschraube gegen die kurdische Bevölkerung und die demokratische Opposition.

Die gleichlautend aufbereiteten Anklagen nach dem Antiterrorgesetz bestehen in der Regel aus dem Vorwurf der Mitgliedschaft oder Rädelsführerschaft in der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), eines aus der kurdischen Arbeiterpartei PKK entstandenen Dachverbandes, oder Propaganda für eine verbotene Organisation. Die Anklage beruht meist auf wilden Konstrukten aus abgehörten Telefonaten und geheimen Zeugen. Im Falle einer Verurteilung drohen trotzdem langjährige Haftstrafen. Das dürfte womöglich auch im Fall der am Freitag letzter Woche im Zuge einer in elf Provinzen des Landes durchgeführten „HDK-Operation“ festgenommenen Oppositionellen eintreffen. Von den zwischenzeitlich 39 festgenommenen Politikerinnen und Politikern – drei weitere sind weiterhin zur Fahndung ausgeschrieben – sind neunzehn in den vergangenen zwei Tagen verhaftet worden. Unter ihnen finden sich zahlreiche HDP-Mitglieder auf Leitungsebene.

Die Generalstaatsanwaltschaft der westtürkischen Hafenstadt Tekirdağ, die das Ermittlungsverfahren führt, hat eine „West-Struktur der KCK“ konstruiert und wirft den Beschuldigten laut Berichten in der regierungsnahen Presse vor, „im Sinne der Ziele der PKK“ und „gegen den Staat“ zu handeln. Der HDK als Projekt von Abdullah Öcalan sei zur „Verwirklichung der demokratischen Autonomie“ in Form eines parlamentsähnlichen Gebildes aufgebaut worden, um als „Alternative“ zur türkischen Nationalversammlung zu agieren. Die Struktur sei „inhaltlich und organisatorisch eindeutig identisch“ mit dem Paradigma der KCK und damit „ohne jeden Zweifel terroristisch“. Dabei gilt der HDK selbst bei der türkischen Justiz als legale Organisation.

Zwar hat der Rechtsbeistand der verhafteten Politikerinnen und Politiker aufgrund einer Geheimhaltungsklausel weiterhin keinen Zugang zu den Akten, die polizeilichen und richterlichen Befragungen gaben jedoch Aufschluss über den weiteren Verlauf der Ermittlungen. So seien alle Beschuldigten darüber befragt worden, ob sie sich aktiv am Gründungsprozess des HDK beteiligt hätten, was die Ziele des Gremiums sind und ob es „auf Anweisung von Abdullah Öcalan“ gegründet wurde, und wen genau der HDP-Ehrenvorsitzende Ertuğrul Kürkçü meinte in seiner Rede anlässlich des HDK-Gründungskongresses im Herbst 2011 mit der Äußerung „Ich grüße jene, die den HDK gegründet haben“.

Bei den bisher Verhafteten handelt es sich um Evin Filiz, Mercan Hantekin, Gülcan Çiğdemli, Gizem Kuzuk, Hilal Civil Bakır, Mehmet Mermer, Selahattin Atay, Mehmet Ali Köseoğlu, Eyüp Ülgen, Hasan Hergül, Mehmet Bozkur, Seyit Soydan, Murat Mutlu, Hüseyin Güzel, Ömer Güven, Emin Şen, Emin Orhan, Sadet Fırat und Sadi Özdemir. Letzterer kandidierte 2016 für ein Abgeordnetenmandat bei der HDP, ist mittlerweile schwerbehindert und kann ohne Beatmungsgerät nicht leben. Die 55-jährige Saadet Fırat ist Krebspatientin und war während einer Therapiesitzung in einem Krankenhaus von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. Die Rechtsanwälte Abdurrahman Öztürk, Tuncer Rençber, Muzaffer Cebek und Adnan Çavaş sowie Hüseyin Bağış und İlyas Karaçayır sind gegen regelmäßige Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt worden. Die Überstellung der restlichen vierzehn Beschuldigten, die sich noch in Polizeihaft befinden, soll heute fortgesetzt werden.