Repression als Wahltaktik: Festnahmewellen gegen HDK und Göçiz-Der

Mit Festnahmewellen will das türkische Regime den Druck auf die politische und zivilgesellschaftliche Vertretung der Kurdinnen und Kurden erhöhen. Diese zeigt sich unbeeindruckt: „Wir halten fest an unserem freiheitlichen und demokratischen Paradigma.“

Seit Jahren ist die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei Repressionen ausgesetzt. Immer wieder geraten ihre Politikerinnen und Politiker ins Visier der Justiz, tausende sitzen bereits im Gefängnis. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan will die politische Konkurrenz ein für alle Mal loswerden, weil ihm klar ist, dass seine Mehrheit im Parlament und sein eigenes Amt bei den nächsten Wahlen in Gefahr sind. Zum dritten Mal innerhalb einer Woche gab es nun Razzien der türkischen Polizei gegen HDP-Mitglieder.

Nach den Operationen gegen Frauenstrukturen in Êlih (tr. Batman) am Dienstag und Mittwoch schlug die Polizei am Freitagfrüh in Istanbul und zehn anderen Provinzen des Landes zu, darunter in Edirne, Izmir, Mêrdîn (Mardin) und Çewlîg (Bingöl). In der Bosporus-Metropole wurde der Hauptsitz des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) gestürmt: Türen wurden aufgebrochen, mehrere Computer und digitale Speichermedien sowie diverses anderes Material beschlagnahmt – darunter persönliche Gegenstände der früheren HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, die seit 2016 in politischer Geiselhaft sitzt. Mindestens 42 Personen sind im Rahmen des von der Generalstaatsanwaltschaft Tekirdağ geführten Ermittlungsverfahrens zur Fahndung ausgeschrieben, einige sind bereits in Polizeihaft.

Hintergrund des Vorgehens gegen den HDK und damit das Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem die HDP 2012 hervorgegangen ist, sind sogenannte Terrorvorwürfe. Die Staatsanwaltschaft Tekirdağ wirft den Beschuldigten vor, „im Sinne der Ziele der PKK“ zu handeln. Der HDK sei zur „Verwirklichung der demokratischen Autonomie“ als ein parlamentsähnliches Gebilde aufgebaut worden, um als „Alternative“ zur türkischen Nationalversammlung zu agieren. Diese Struktur sei „inhaltlich und organisatorisch eindeutig identisch“ mit dem Paradigma der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), dem Dachverband der kurdischen Befreiungsbewegung, dem auch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angehört. In Berichten der regierungsnahen türkischen Presse ist von einer „Operation gegen die West-Struktur der KCK“ die Rede.

Der Eingang zur HDK-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu nach der überfallartigen Razzia

Parallel zur neuerlichen Repressionswelle gegen die HDP beziehungsweise den HDK wurde in Istanbul auch eine Festnahmeoperation gegen den Migrationsverein Göçiz-Der eingeleitet. In zahlreichen Kreisen der Provinz und vier anderen Städten wurden Wohnungen sowie der Istanbuler Hauptsitz gestürmt, 22 von insgesamt 28 Gesuchten befinden sich inzwischen in Gewahrsam. Auch hier wird bei der Begründung auf vermeintliche Verbindungen zur PKK verwiesen. Laut der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul würde Göçiz-Der Fördermittel der Europäischen Union und der Vereinten Nationen für „PKK-Propaganda“ missbrauchen. „Systematisch“ hätte der Migrationsverein die Gelder aus dem Ausland für „Broschüren und Seminare“ verwendet, um im Einklang mit dem Geist der PKK zu handeln.

HDP: Wir sind die größte Gefahr für Erdoğans Allmachtsfantasien

Die HDP zeigte sich empört, verwundert war sie aber keineswegs. Die Festnahmewellen mit Verweis auf angebliche PKK-Verbindungen seien ein weiterer Vorwand, um unliebsame Widersacher aus dem Weg zu räumen. „Diese Mentalität, die jede Person, die Demokratie, Frieden, Gleichheit, Rechte und Freiheiten in diesem Land einfordert, zu ‚Terroristen‘ erklärt und die Justiz sowie den Sicherheitsapparat als Knüppel gegen sie einsetzt, zielt auf die dynamischsten Teile der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass gerade der HDK, der Verein Göçiz-Der und unsere Partei das Ziel dieser Angriffe sind“, erklärte der Parteirat der HDP in einer Mitteilung. Schließlich seien die HDP und ihre Komponenten die „größte Gefahr“ für Erdoğans Allmachtsfantasien. Deshalb werde seit Jahren versucht, die Partei zu liquidieren. „Dieser nicht enden wollender Hass und Zorn kanalisiert sich nun gegen den HDK – die demokratischste, pluralistischste und schillerndste Selbstorganisation dieses Landes, die alle Farben der Gesellschaft dieses Landes verkörpert“, so die HDP.

Die AKP stehe allen demokratischen, pluralistischen, vielfältigen und farbenfrohen Ansichten und Meinungen feindlich gegenüber. Daher liege es in ihrer Natur, innerhalb des HDK organisierte Gruppen, zu denen die Arbeiterklasse, Werktätige, Migrant:innen, Frauengruppen, Bauernverbände, Jugendorganisationen, Alte, Körperbehinderte, Ignorierte und Unterdrückte, ethnische und religiöse Gemeinschaften gehörten, aus ihren Lebensräumen zu drängen und sie in vielerlei Hinsicht mit Zerstörung zu konfrontieren. „Die AKP verkörpert eine Manifestation des Monismus und dunkle Mentalität, die sie der gesamten Gesellschaft aufzwingen will. Diese Gesinnung kennen wir aus den 1990er Jahren“, erklärte die HDP. Dass gerade auch der Verein Göçiz-Der, der von Überlebenden der damals in Kurdistan gültigen Politik der verbrannten Erde gegründet wurde, ins Visier der staatlich gelenkten Justiz geraten ist, verdeutliche unübersehbar, dass die AKP der heutige Vertreter dieser dunklen Periode sei. „Ganz gleich, was die AKP sonst noch zu tun vermag; sie wird verlieren.“ 

Protest in Istanbul

In Istanbul kamen Vertreterinnen und Vertreter der HDP, einiger Mitgliedsparteien und von Göçiz-Der vor dem Sitz des HDK zusammen, um gegen die Festnahmewellen zu protestieren. Unter ihnen waren auch die HDP-Abgeordneten Tülay Hatimoğulları, Musa Piroğlu, Dilşat Canbaz und Sezai Temeli sowie Aktive der linken und sozialistischen Parteien SYKP, ESP und DP. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, sagte die HDK-Sprecherin Esengül Demir. Es sei leichtsinnig zu glauben, das Organisierungsgremium werde wegen der Repression sein „freiheitliches und demokratisches Paradigma“ aufgeben. „Diese Aktionen eines mafiös agierenden Staates können uns nicht beeindrucken.“