Die Großdemonstration am Sonnabend in Frankreichs Hauptstadt stand im Zeichen des Mottos „Paris liegt im Dunkeln, wo ist die Gerechtigkeit?“ und der Forderung, die Verantwortlichen für den Mord an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez endlich anzuklagen. Die drei kurdischen Revolutionärinnen sind im Januar 2013 von einem Agenten des türkischen Nachrichtendienstes MIT in Paris erschossen worden, der Prozess gegen den Attentäter wurde eingestellt, nachdem er kurz vor Prozessbeginn unter zweifelhaften Umständen in Haft verstorben ist. Auf Drängen der Angehörigen der ermordeten Frauen wurde 2019 zwar ein neues Ermittlungsverfahren eingeleitet, in dem es aber bis heute keine Fortschritte gibt: Ein Staatsgeheimnis blockiert die Aufklärung.
Zehntausende Menschen hatten sich gestern an der Demonstration anlässlich des elften Jahrestages des Dreifachmords von Paris beteiligt. Unter ihnen waren auch zahlreiche Persönlichkeiten aus der französischen Politik und dem öffentlichen Leben. In ihren Redebeiträgen wurde mehr als deutlich, dass die Kritik an der Weigerungshaltung der französischen Regierung hinsichtlich einer juristischen Aufklärung parteiübergreifend groß ist und dieser Umstand als Demokratiedefizit wahrgenommen wird.
Hélène Bidard: Frankreich schützt die Täter
Die kommunistische Politikerin und stellvertretende Bürgermeisterin von Paris, Hélène Bidard etwa, wies darauf hin, dass mit dem politischen Attentat vor elf Jahren drei Generationen der kurdischen Befreiungsbewegung vom türkischen Geheimdienst angegriffen wurden: Sakine Cansız war Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und eine führende Persönlichkeit der kurdischen Frauenbewegung. Fidan Doğan war Vertreterin des Nationalkongress Kurdistan (KNK) in Paris, die 25-jährige Leyla Şaylemez eine Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung in Europa. Bidard warf der Regierung ihres Landes vor, die Täter zu schützen und durch die Behandlung der Ermordung von Cansız und ihren Mitstreiterinnen als Verschlusssache den Boden für einen zweiten Anschlag auf kurdische Menschen in Frankreich bereitet zu haben: die Ermordung von Evîn Goyî, Mîr Perwer und Abdurrahman Kızıl beim Angriff auf das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ am 23. Dezember 2022, ebenfalls in Paris.
Befremdlicher Umgang der Justiz mit zweitem Massaker
„Wir wollen, dass beide Massaker restlos aufgeklärt werden. Statt sich auf die Seite der Täter zu stellen, muss sich Frankreich neben den Kurdinnen und Kurden positionieren. Diese ermordeten Frauen waren Feministinnen, die für alle Frauen weltweit gekämpft haben.“ Bidard wies auch auf den Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in Nord- und Ostsyrien hin und erklärte, dass dieser maßgeblich von Kurdinnen und Kurden getragene Einsatz der gesamten Menschheit zugute komme. „Evîn Goyî war eine der Kurdinnen, die diesen Widerstand führte – auch für Frankreich.“ Die französische Anti-Terror-Staatsanwaltschaft müsse die Ermittlungen an sich ziehen, forderte sie im Namen ihrer Partei PCF. Es sei befremdlich, dass der Fall lediglich als rassistische Tat gewertet werde, obwohl die Aussagen des Schützen eindeutig terroristische Motive hinter seiner Tat erkennen ließen, die bewusst auf eine der kurdischen Befreiungsbewegung nahestehende Einrichtung abzielten, und möglichen Verbindungen des Attentäters zu ausländischen (staatlichen) Akteuren nicht nachgegangen werde.
Mathilde Panot: Morde von Paris sind „schwarzer Fleck“ in Frankreich
Die linke Nationalversammlungsabgeordnete Mathilde Panot von La France insoumise, die zugleich Vorsitzende der Parlamentsfraktion ihrer Partei ist, bezeichnete die Morde von Paris als „schwarzen Fleck“ in Frankreich, der unbedingt entfernt werden müsse. Das Staatsgeheimnis müsse sofort aufgehoben werden und die Drahtzieher von der Justiz konsequent verfolgt werden. „Ein Staat, der Mitglied der EU werden will, lässt auf deren Territorium kurdische Persönlichkeiten ermorden und Frankreich schaut weg? Das ist durch nichts zu rechtfertigen und kann nicht akzeptiert werden.“ Panot bekräftigte ebenfalls die Forderung nach Einbeziehung der Antiterrorstaatsanwaltschaft in das Verfahren um das zweite Massaker. Außerdem verurteilte sie die Angriffe des türkischen Staates gegen Rojava und forderte die Freilassung der kurdischen politischen Gefangenen.
Rémi Féraud: Türkischer Staatsterror mitten in Paris
Senator Rémi Féraud von der Sozialistischen Partei Frankreichs sprach im Zusammenhang mit der Ermordung von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von türkischem „Staatsterror“. „Wir wollen nicht, dass sich politische Morde an Angehörigen des kurdischen Volkes, dem wir freundschaftlich verbunden sind, wiederholen. Deshalb muss das Staatsgeheimnis aufgehoben werden und der zweite Dreifachmord als terroristischer Akt eingestuft werden. Wir stehen stets solidarisch an der Seite der Kurdinnen und Kurden und unterstützen ihren gerechten und würdevollen Kampf um Gerechtigkeit und Wahrheit. Das gilt auch für ihren Widerstand um die Freiheit von Abdullah Öcalan.“
Entfernung der PKK aus Terrorliste, Freilassung von Abdullah Öcalan
Ähnliche Worte fanden auch Suzy Rothmann von der französischen Frauenbewegung sowie Olivier Besancenot, Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei. Der Nationale Koordinator der linken La France insoumise, Jean-Christophe Sellin, forderte Frankreich auf, sich für die Aufhebung der Listung der PKK als „Terrororganisation“ einzusetzen. „Präsident Macron muss sich auch dafür aussprechen, dass Abdullah Öcalan aus der Geiselhaft des türkischen Staates entlassen wird. Denn nur mit einem freien Öcalan lässt sich die kurdische Frage lösen, deren bisherige Unlösbarkeit der Ausgangspunkt der Krisen und Kriege in der Region ist.“