Neuverhandlungen zum EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen

Die letzten Wochen und Monate waren vom Aufbau einer Drohkulisse mit dem Ziel, das EU-Türkei-Abkommen neu zu verhandeln, geprägt. Gleichzeitig nehmen rassistische Pogrome in der Türkei zu. Auch wird die Siedlungspolitik in Nordsyrien ausgeweitet.

Die Flüchtlingspolitik des Regimes in Ankara ist in den letzten Wochen und Monaten in Bewegung gekommen. Das hat zunächst mehrere Ursachen. Dazu ist ein Blick in die Geschichte des EU-Türkei-Abkommens nötig. Die Europäische Union vereinbarte am 18. März 2016 mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen, welches die Einreise von Flüchtlingen über die Türkei in die EU verhindern soll. Bislang haben die Europäische Union sowie einzelne EU-Mitgliedstaaten 50 Prozent dieser vereinbarten Summe an die Türkei ausgezahlt. Das seitens der Europäischen Union zur Verfügung gestellte Geld soll ausschließlich für Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Unterkünfte und Lebensmittelversorgung genutzt werden. Gleichzeitig sollen syrische Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf Asyl haben (da sie „illegal“ eingereist sind), von den griechischen Inseln zurück in die Türkei abgeschoben werden.

Schutzsuchende als Geiseln des AKP-Regimes

Durch die Schließung der Grenzen der Türkei für Schutzsuchende sollte dafür gesorgt werden, dass keine Flüchtlinge mehr in der EU ankommen. Um die eigene Handelsposition zu verbessern, hatte die Türkei zuvor die Grenzen weitgehend geöffnet und Schutzsuchenden die oft tödliche Überfahrt nach Griechenland in Schlauchbooten ermöglicht. Viele Familien starben bei dem Versuch auf die griechischen Inseln zu gelangen. Mit der Schließung der Grenzen und dem EU-Türkei-Abkommen nahm das Erdoğan-Regime die Schutzsuchenden praktisch als Geiseln. Während Kinderarbeit florierte und überhaupt nur ein Bruchteil der Schutzsuchenden staatliche Versorgung oder Unterbringung erhielt, spielte sich der türkische Staat als Schutzmacht für Geflüchtete auf. Gleichzeitig wurden immer wieder Flüchtlingslager genutzt, Rekruten für dschihadistische Milizen in Nord- und Ostsyrien zu gewinnen.

Erkauftes Schweigen zu schwersten Verbrechen

Mit der Geiselnahme der Flüchtlinge und der Drohung, sie in die EU zu lassen, erkaufte das AKP-Regime Wohlverhalten der EU-Staaten und insbesondere Deutschlands, während Erdoğans-Armee zusammen mit Esadullah-Dschihadisten nordkurdische Städte in Grund und Boden stampfte und hunderte Aktivist*innen tötete und in Syrien den IS und andere Dschihadisten unterstützte, um die dortige radikaldemokratische Selbstverwaltung zu vernichten. Es ist sicherlich auch dem EU-Türkei-Deal zu „verdanken“, dass auch nur der Anschein jeglicher diplomatischer Kontakte der Bundesregierung mit der Selbstverwaltung in Rojava, um jeden Preis verhindert werden sollte.

Nicht nur politische, sondern auch finanzielle Unterstützung für das Regime

Bei der Verteilung der ersten drei Milliarden Euro aus dem Flüchtlingspakt verwalteten Organisationen der UN nach offiziellen Angaben zwei Drittel des Gesamtbudgets. 660 Millionen Euro gingen direkt nach Ankara und versickerten nach Berichten des europäischen Rechnungshofes immer wieder in dubiosen Projekten wie niemals fertig gestellten Krankenhäusern. Als Gegenleistung hielt die Türkei Schutzsuchende bei sich fest oder setzte an ihren östlichen Außengrenzen ein rigoroses Grenzregime um, das vielen Schutzsuchenden das Leben kostete.

Türkische Regierung will mehr vom Kuchen abbekommen

Die 660 Millionen reichten dem Erdoğan-Regime nicht. Weiterhin geht es dem Regime darum, durch den Flüchtlingsdeal eine Unterstützung für eine türkische Besatzungszone in Nordsyrien zu erwirken. Was passierte also? Erdoğan ließ seinen Außenminister Çavuşoğlu das Flüchtlingsabkommen offiziell aufkündigen und lockerte das Grenzregime im Westen. Die griechischen Inseln erreichten in diesem Jahr 50 Prozent mehr Schutzsuchende als 2018. Im August und September hat sich der Andrang gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Allein in der vergangenen Woche kamen 3.000 Menschen aus der Türkei auf den griechischen Inseln an.

Hölle auf Moria, Konsequenz aus EU-Türkei-Deal

Die Lager für Schutzsuchende auf den griechischen Inseln sind heillos überlastet. Im Aufnahmelager Moria auf Lesbos, dessen Unterkünfte und sanitäre Anlagen für 3.000 Personen ausgelegt sind, leben inzwischen über 12.000 Menschen. Weil die Einrichtungen längst überfüllt sind, sind Neuankünfte zur Obdachlosigkeit verurteilt. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist die Situation dramatisch. Im bevorstehenden Winter droht hier eine humanitäre Katastrophe.

Flüchtlingsfeindliches Spiel in der Türkei

Während nationalistische Kreise in der Opposition während der Wahlen gegen Schutzsuchende aus Syrien agitierten, übernahm die AKP bereitwillig diese Hetze gegen Schutzsuchende und setzte eine massive flüchtlingsfeindliche Politik um. Insbesondere in Istanbul finden seit Mitte Juli systematische Razzien gegenüber Schutzsuchenden statt. Offiziell sollen diese in die Provinzen zurückgeschoben werden, in denen sie registriert sind, jedoch häufen sich Berichte, nach denen sie gezwungen werden, Erklärungen zur „freiwilligen“ Ausreise zu unterzeichnen, um dann unter menschenunwürdigen Bedingungen – unter anderem ist von Verweigerung von Nahrung die Rede – nach Syrien abgeschoben zu werden. Gerry Simpson, stellvertretender Direktor der Abteilung für Krisengebiete der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), sagt: „Die Türkei behauptet, Syrern dabei zu helfen, freiwillig in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Tatsächlich drohen die Behörden damit, sie einzusperren, wenn sie nicht zurückgehen wollen. Sie werden gezwungen, Formulare zu unterschreiben, und in ein Kriegsgebiet verfrachtet – das ist weder freiwillig noch rechtmäßig.“ HRW legt Berichte vor, denen zu Folge syrische Flüchtlinge durch Schläge, Drohungen und Täuschungen dazu gezwungen werden, diese Einverständniserklärungen zur „freiwilligen“ Ausreise zu unterzeichnen, und dokumentiert Fälle von Schutzsuchenden, die in Folge dessen nach Idlib und Efrîn abgeschoben wurden. Die Region Idlib wird in großen Teilen vom Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert, die Region Efrîn ist von der Türkei und mit ihr verbündeten, teilweise dschihadistischen Milizen besetzt.

Pogrome in der Türkei

Immer wieder kommt es durch das nationalistisch angefachte Klima zu Pogromen gegen Schutzsuchende in der Türkei. In dem bevölkerungsreichsten Stadtbezirk Seyhan in Adana hatte am 19. September eine aufgebrachte Menschenmenge syrische Geschäfte angegriffen. Der Welle von Hetzjagden und Angriffen war ein Gerücht über den sexuellen Missbrauch eines elfjährigen Kindes durch einen syrischen Flüchtling vorangegangen. Zwei Tage später erklärte der Provinzgouverneur, dass der 15-jährige A.K. als dringend tatverdächtig festgenommen wurde. Es handele sich jedoch um einen türkischen Staatsbürger. Dennoch gingen die Angriffe auf syrische Flüchtlinge weiter und die Bewohner*innen des Stadtviertels forderten, dass die Flüchtlinge ihre Nachbarschaft verlassen.

Schutzsuchende als Siedler in Nordsyrien

Nach Nordsyrien abgeschobene Schutzsuchende sollen insbesondere in Efrîn der Veränderung der Demographie der Region dienen. Das Vorgehen der Türkei gegenüber Geflüchteten stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention dar, nachdem niemand an einen Ort zurückgeschickt werden darf, an dem die reale Gefahr besteht, verfolgt, gefoltert, anderweitig misshandelt oder getötet zu werden. HRW zu Folge waren auch Schutzsuchende von solchen erpressten „freiwilligen Ausreisen“ betroffen, die von der türkischen Küstenwache an der Ägäis aufgegriffen wurden. Hier stellt sich die Frage, ob auch im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens an die Türkei rücküberstellte Schutzsuchende von dieser rechtswidrigen Praxis betroffen sind.

Gestärkte Verhandlungsposition bringt kriselndem Erdoğan-Regime Erfolg

Erdoğan hatte also seine Verhandlungsposition mit diversen Druckmitteln gestärkt und war offensichtlich Erfolgreich. Bei der zweiten Tranche (ebenfalls drei Milliarden Euro) sind nach Recherchen des Handelsblatts bereits jetzt 875 Millionen Euro für die türkische Regierung eingeplant. Ein Sprecher der EU bestätigte die Zahlungen an Ankara. Bei der Vergabe weiterer Gelder aus dem Pakt spielen die UN-Organisationen eine deutlich geringere Rolle als bisher. Laut Handelsblatt könne einer der größten Einzelaufträge in Höhe von 860 Millionen Euro an das Internationale Rote Kreuz (IFRC) gehen. Einer der Vizepräsidenten der Dachorganisation ist Kerem Kinik. Er ist Chef des Roten Halbmondes, der türkischen Landesorganisation des IFRC. Damit würden rund 1,7 Milliarden Euro aus der zweiten Tranche unter direkte oder indirekte Kontrolle der Türkei fallen.

Gelder unter der Kontrolle der Türkei stellen Subventionierung der Besatzung dar

Die Erhöhung der Gelder einerseits, während andererseits die türkische Regierung offen verkündet, die Schutzsuchenden in einer Besatzungszone in Nord- und Ostsyrien ansiedeln zu wollen und dazu praktische Schritte unternimmt, wecken die Befürchtung, dass diese Gelder eine Subventionierung der Besatzung Nordsyriens darstellen. Die Kosten könnten dann sogar offiziell als Kosten der Unterbringung von Schutzsuchenden verbucht werden.