Mutter und Bruder in Efrîn verloren

Sûjiyan, der vor zwei Jahren aus Efrîn nach Deutschland gekommen ist, hat bei den Angriffen des türkischen Staates auf Efrîn seine Mutter und seinen Bruder verloren. Seiner 16-jährigen Schwester wurde ein Bein amputiert.

„Als ich die mit Blut getränkte karierte Decke zwischen den Trümmern entdeckte, habe ich verstanden, dass es unser Haus ist. Ich habe mir Sorgen um meine Mutter und um meine Geschwister gemacht, ich war am Boden zerstört und bin vor Schmerz durchgedreht…“

Diese Worte stammen von dem 21-jährigen Sûjiyan Konis aus Efrîn. Das Haus der Familie Konis in Raco wurde am 24. Januar nachts um 2.00 Uhr durch Kampfflugzeuge der Türkei bombardiert. Sein 17-jähriger Bruder Rûşer Konis starb bei diesem Angriff, seine Schwester verlor ein Bein. Seine bettlägerige Mutter Şemse Mûsa brach sich beide Beine bei diesem Angriff. Sie ertrug den Verlust ihres Kindes nicht und starb zwölf Tage später.

Die Ereignisse, die die Familie Konis durchleben musste, verdeutlichen, dass die Äußerungen des türkischen Staates, keine Operationen gegen die Zivilbevölkerung in Efrîn durchzuführen, nicht der Wahrheit entsprechen. Die Aussagen von Sûjiyan Koni bringen die Lügen der Türkei ans Licht. 

„Vor zwei Jahren bin ich mit meinem Vater nach Deutschland gekommen“

Wir haben Sûjiyan Konis im Demokratisch-Kurdischen Gesellschaftszentrum in Bielefeld getroffen. Das Sprechen fiel ihm schwer. Zwischendurch kamen ihm die Tränen, er stoppte, schluckte und sprach weiter. Sûjiyan ist vor zwei Jahren mit seinem Vater, einem Lehrer, nach Deutschland gekommen. Sein Vater wurde der Stadt Gießen und er der Ortschaft Kirchlengern zugeteilt. Seine Ausbildung hat er aufgrund der Angriffe auf Efrîn abgebrochen.

Seine letzten Worte: Ich bin auf alles vorbereitet

Am 24. Januar, ein paar Stunden, bevor in der Nacht türkische Kampfflugzeuge Efrîn bombardierten, hat Sûjiyan das letzte Mal mit seinem Bruder gesprochen: „Ich habe das letzte Mal in der Nacht, in der unser Haus bombardiert wurde, um ungefähr 23.30 Uhr mit meinem Bruder gesprochen. Er sagte mir: ‚Uns allen geht es gut, wir sind auf alles vorbereitet, wir verlassen unser Haus nicht‘. Ohnehin war meine Mutter schwer krank und konnte seit drei Jahren nicht mehr laufen. Meine Mutter war bettlägerig. Zwei meiner Geschwister pflegten sie. Ständig musste sie gespritzt werden. Außerdem kämpft einer meiner Brüder in den Reihen der YPG…“

„Dein Bruder wird Efrîn verteidigen“

Sûjiyan erzählt weiter, er habe in der Nacht des Angriffs erfahren, dass sich die gesundheitliche Lage seiner Mutter verschlimmert hatte. Er habe daraufhin nicht nur mit seinem Bruder, sondern auch mit seiner Mutter telefoniert: „Meine Mutter sagte mir: ‚Ich werde nach Damaskus zum Arzt fahren, dein Bruder wird hier in Efrîn bleiben. Jeder hier verteidigt Efrîn, er wird es auch tun‘.“

Im Schlaf getötet

Ungefähr zwei Stunden nach dem Telefonat habe er die Nachricht von der Bombardierung erhalten, sagt Sûjiyan und fährt fort: „Nach zwei Stunden habe ich durch Verwandte erfahren, dass unser Haus bombardiert wurde. Mein Bruder wurde in seinem Bett getötet. Meine Schwester erlitt schwere Verletzungen am Rücken und am Kopf. Eines ihrer Beine wurde amputiert. Meine Mutter war sowieso krank, sie hat sich beide Beine bei dem Angriff gebrochen. Nach dem Angriff kamen die Nachbarn zu uns. Meine Mutter soll zu ihnen gesagt haben: ‚Bringt die Kinder ins Krankenhaus, ich werde hier in meinem Haus bleiben, ich werde nicht gehen‘. Einer unserer Nachbarn hat die Schreie aus unserem Haus gehört und erlitt einen Herzinfarkt, an dem er gestorben ist.“

„Sie orten die Handysignale“

Sûjiyan fällt es schwer, weiter zu sprechen. Schließlich sagt er: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Feind kennt ja niemanden von uns. Angeblich erfolgen die Angriffe durch die Ortung von Handysignalen. Die Häuser in unserer Nähe standen alle leer. Sie sind leer, aber die Bombe trifft unser Haus. Überall, wo es Telefonsignale gibt, wird bombardiert. Als ich mit meinem Bruder telefonierte, habe ich ihn gefragt: ‚Was gibt es Neues? Wie ist die Situation in Efrîn?‘. Er sprach sehr gut kurdisch und sagte: ‚Es ist alles in Ordnung. Wir sind auf alles vorbereitet‘. Obwohl ich ihm riet, aus Sicherheitsgründen lieber Arabisch anstatt Kurdisch zu reden, sagte er: ‚Da passiert nichts. Wir sind in unserem eigenen Land, was soll unser Feind schon machen‘.“

Er war Efrîns bester Schüler

Sûjiyan erzählt, sein Bruder Rûşêr sei der beste Schüler Efrîns gewesen: „In Efrîn machte er seine Ausbildung auf Kurdisch. Er wollte Arzt werden. Vor zwei Jahren wurde er zum besten Schüler Efrîns gewählt. Er wurde nach Aleppo eingeladen, um dort seine Ausbildung fortzuführen, doch er ging nicht, weil er in seinem eigenen Land zur Schule gehen und arbeiten wollte. Mein Bruder war jünger als ich, aber er war wie ein Erwachsener. Er wollte, dass ich auch weiter zur Schule gehe. Und ich werde seinem Wunsch nachkommen und hier meine Ausbildung fortsetzen. Ich werde das Versprechen, das ich ihm gegeben habe, halten.“

Die ganze Familie nimmt an der Verteidigung Efrîns teil

Ein anderer Bruder von ihm sei bei der YPG, sagt Sûjiyan stolz. Viele seiner Familienmitglieder würden sich an der Verteidigung Efrîns beteiligen. Er ergänzt: „Mein Bruder ist gefallen, aber wir wollen nur verhindern, dass der Feind in Efrîn einmarschiert. Wenn alle fliehen, wer soll dann Widerstand leisten und Efrîn verteidigen? Eine Schwester von mir ist auch dort, mit vier Kindern. Ihr Mann ist YPG-Kämpfer. Ein Schwiegersohn meines Onkels ebenfalls. In unserer Familie gibt es eine große Anzahl an Kämpfer*innen. Alle sagen, dass sie Efrîn verteidigen wollen. Auch die Frauen nehmen an der Verteidigung Efrîns teil.“

„Wir verteidigen unser Volk“

Sûjiyan ist nicht nur traurig, sondern auch wütend. Für den Tod seines Bruders macht er Erdoğan verantwortlich: „Bis jetzt hat Erdoğan hauptsächlich Zivilisten getötet. Und er tut es immer noch. Jede Bombe trifft Zivilisten. Efrîn ist seit sieben Jahren abgeriegelt. Bis jetzt wurde nicht eine Kugel auf die Türkei abgeschossen. Wir sind keine Terroristen. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir verteidigen unser Volk. Wir haben nichts getan, bis Erdoğan und seine Banden anfingen Efrîn anzugreifen. Sie schreien ‚Allah`u Ekber‘ und greifen uns an und bringen uns um. In Efrîn gibt es Muslime, Eziden, Aleviten und Christen. Vor allem aber bin ich Kurde. Ja, ich bin Moslem, aber zu allererst kommt für mich die kurdische Identität.“

„Meine Mutter ist auch tot“

Am 24. Januar wurde Sûjiyan von der Nachricht des Todes seines Bruders erschüttert. Am 5. Februar, kurze Zeit nach unserem Gespräch, verlor er auch seine bettlägerige und durch die Bombardierung verletzte Mutter. Während ich noch an diesem Artikel arbeitete, erfuhr ich in einem Telefonat mit ihm, dass seine Mutter verstorben ist. Unter Tränen kann er nur sagen: „Vor einer Stunde ist meine Mutter gestorben. Möge Gott dem türkischen Regime Unheil bringen…“

MURAT MANG / YENI ÖZGÜR POLITIKA