Muslim: „Krieg und Unterdrückung sind Ergebnis der Isolation“

Der PYD-Vorsitzende Salih Muslim spricht über die Bedeutung der Isolation Abdullah Öcalans. Er kritisiert das Antifolterkomitee CPT als Teil der Isolationspolitik und ruft zum gemeinsamen Kampf auf.

Seit 22 Monaten gibt es kein Lebenszeichen vom kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Das AKP/MHP-Regime setzt auf allen Ebenen auf Krieg und Unterdrückung und versucht sich so an der Macht zu halten. Im ANF-Interview kritisiert der Ko-Vorsitzende der vor allem in Nord- und Ostsyrien aktiven Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Salih Muslim, die Rolle des Europäischen Komitees zu Verhinderung von Folter (CPT) bei der Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali.


Wie bewerten Sie die seit 22 Monaten andauernde Politik der Totalisolation auf Imrali?

Es ist unmöglich, die Isolationspolitik vom Widerstand des kurdischen Volkes zu trennen. Wenn man an den Anfang zurückgeht, also zur Verschleppung von Abdullah Öcalan 1999, seine Inhaftierung auf Imrali, die Auferlegung der Isolation und dabei die Rolle der Europäischen Union und die Anwesenheit eines CPT-Vertreters dabei beachtet, dann wird klar, dass all das im Zusammenhang mit dem Restrukturierungsprojekt „Greater Middle East“ [einer von der USA-geführten Restrukturierung des Nahen Ostens] steht. Es geht um die Neustrukturierung des Nahen Ostens. Es gab im 20. Jahrhundert kein kurdisches Volk mehr, seine Existenz, Identität und sein Leben wurde nicht anerkannt. Dann taucht eine Partei, eine Organisationsstruktur auf, die das Volk wachrüttelt. Dabei geht es nicht nur um das Volk in Nordkurdistan, sondern in allen Teilen Kurdistans. Das Volk nimmt am Kampf teil. Damit hatte man nicht gerechnet. Demgegenüber mussten Maßnahmen ergriffen werden, da dies den gesamten „Greater-Middle-East“-Plan bedrohte. Die kurdischen Freiheitsbestrebungen stellten ein Hindernis für dieses Projekt dar. Denn es handelte sich um eine neue Ideologie, Philosophie und Lebensweise.

Wenn wir vom kurdischen Volk sprechen, sprechen wir von über 50 Millionen Menschen. Das Komplott, die Inhaftierung und die Isolation [von Herrn Öcalan] stehen damit im Zusammenhang. Alle sagen: „Die Freiheit von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] bedeutet die Freiheit Kurdistans.“ Das ist wahr, es besteht diese enge Verbindung. Deshalb wurde er gefangengenommen und wird bis heute festgehalten. Anfangs wurde gedacht, man hätte so dem Ganzen ein Ende bereitet und wäre ihn „losgeworden“. Aber das ist nicht gelungen.

Die Isolation wurde bereits von Anfang an auf verschiedene Weise durchgesetzt und hat sich zu einer absoluten Isolation entwickelt. Denn wenn Rêber Apo eine Gelegenheit findet, richtet er sich sofort an das Volk. Denken wir daran, dass er sich vor zwei Jahren in einem kurzen Telefongespräch nach der Lage des Volkes erkundigte und eine Initiative anbot. Deshalb werden ihm auch keine Telefongespräche erlaubt.

Wer steht jenseits der Türkei hinter dieser Politik?

Diese Politik wird von den Kräften umgesetzt, die von Anfang an am Komplott beteiligt waren. Dabei handelt es sich um Gladio und die NATO. Die Türkei ist hier nur der Büttel. So stellt sich die Lage dar. Natürlich wird die Türkei im Krieg immer in den Vordergrund gestellt, sie steht im Mittelpunkt des Geschehens, aber sie ist nicht frei. Die Türkei hat ihre eigenen Gesetze und Vorschriften, aber sie wendet sie nicht an. Das System auf Imrali ist ein internationales System, zu dem auch Europa gehört, und es untersteht immer noch der NATO-Organisation Gladio.

Krieg, Massaker und Unterdrückung sind Ergebnis der Isolation“

Die Totalisolation der letzten zwei Jahre ist das Ergebnis davon. Isolation ist Folter. Der Gefangene in Imralı ist nicht nur ein Gefangener, er wird nicht in einer Zelle mit einer verschlossenen Tür festgehalten, er wird täglich gefoltert. Wir kennen die Details auf Imrali nicht, aber es findet eine psychologische Folter statt. Wäre dies nicht der Fall, könnte er Nachrichten von außen empfangen und hören, dass sich seine Philosophie bis zu den Philippinen verbreitet hat. Er würde sehen, dass das Jahrhundert von „Jin Jiyan Azadî“, von dem er gesprochen hat, begonnen hat und dass Millionen von Menschen jeden Tag auf den Straßen Freiheit einfordern. Aber um den Druck gegen ihn aufrecht zu erhalten, darf er keine Nachrichten von außen erhalten und wir dürfen keine Informationen von drinnen bekommen. Es findet täglich Folter statt, um die Moral des Volkes negativ zu beeinflussen.

Die Isolation darf nicht nur als Ausdruck des Faschismus der Türkei gesehen werden, sondern muss in all ihren Dimensionen betrachtet werden. In der Türkei muss eine demokratische Lösung gefunden werden. Die Fahne des Widerstands muss hochgehalten werden. Alle müssen sich der Isolation bewusst sein und es muss dafür gesorgt werden, dass sich der Feind zurückzieht. Der Feind führt die Politik der Unterdrückung nicht nur auf Imrali durch, sondern richtet diese Unterdrückung auch gleichzeitig gegen das kurdische Volk. Die Menschen werden tagtäglich gefoltert. Durch das Massaker in Paris hat sich dies noch weiter konkretisiert. In Kurdistan herrscht ein erbitterter Krieg, der immer noch weitergeht. Das alles ist eine Folge der Isolation. Dies aufzudecken ist in unserem Interesse. In der Vergangenheit schämte man sich für die kurdische Realität, aber jetzt spielen wir weltweit eine Vorreiterrolle. Das Gladio-System muss durch Widerstand zerstört werden, und der Welt muss die Wahrheit über Gladio gezeigt werden. Das wird sicherlich Auswirkungen auf politische Entscheidungen haben.

Alle müssen den Widerstand vorantreiben“

Glauben Sie, dass der Widerstand angesichts der Ausweitung der Isolation ausgereicht hat?

Der Widerstand im Jahr 2022 war gewiss gewaltig. Aber wir haben noch viel zu tun, denn die Ziele wurden noch nicht erreicht. Der Widerstand war erfolgreich, aber nicht ausreichend. Hierfür ist es notwendig, den Widerstand auszuweiten. Die jüngsten Proteste der Abgeordneten vor dem Justizministerium sind sehr wichtig. Ob der Feind nun zuhört oder nicht, die Aktionen gehen trotzdem weiter. Zumindest wird etwas gemacht, denn wir dürfen nicht schweigen. Alle sollten, jenseits des Guerillawiderstands, ihren Kampf verstärken, die Aktionen sollten sich auf viele Orte ausweiten. Das Volk muss sich Tag für Tag gegen den Faschismus erheben. Sie mögen geschlagen werden, manche mögen verhaftet werden, aber das Volk muss für diese Aktionen eintreten. Der Widerstand muss entgegen allen Widrigkeiten in den Metropolen der Türkei gestärkt werden. Es muss sich um einen demokratischen Widerstand handeln. Es ist wichtig, auf diesem Widerstand zu bestehen.

Warum erfüllt das CPT seine Mission nicht?

Ja, es gibt auch das CPT-Problem. Dieses Komitee ist das Komitee zur Verhinderung von Folter. Wenn es Folter gibt, muss sich das Komitee dem entgegenstellen und die Folter verhindern. Leider hat das CPT in der Öcalan-Frage nur eine Beobachterrolle eingenommen. Es analysiert, ob Folter vorliegt oder nicht, und legt dem Europarat seinen Bericht vor. Der Europarat sagt jedoch, dass er den Bericht nicht ohne die Zustimmung der Türkei veröffentlichen könne. Wenn man wirklich Folter verhindern will, muss das Komitee aus der Position des Berichterstatters heraustreten, Maßnahmen gegen Folter ergreifen und entsprechende Empfehlungen abgeben. Es gibt eine große Macht hinter dem CPT. Wir meinen damit den Europarat und das Europaparlament, die verschiedenen Einrichtungen und Behörden, aber auch die tun nichts. Das CPT geht nach Imrali, sagt aber nichts. Es gibt keine Informationen über die Situation von Rêber Apo. Auch das ist eine Form der Folter. Das muss verhindert werden. Wenn es nicht verhindert werden kann, warum wird das Gefängnis dann überhaupt besucht? Die Verweigerung von Anwalts- und Familienbesuchen ist ebenfalls eine Form der Folter. Nach türkischem Recht dürfen die Gefangenen mit ihren Familien telefonieren. Auch das ist nicht erlaubt. Ist das alles nicht ein Teil der Folter? Das CPT hat die Möglichkeit, diese Folter zu verhindern, aber leider hat es das nicht getan. Wir haben dies von Anfang an in unseren Gesprächen mit Europa gesagt. Sie sprechen von Demokratie, aber Demokratie gilt doch nicht für Europa allein. Wir brauchen auch Demokratie. Gesetze, die in Europa nicht akzeptiert werden, werden bei uns als Ermessensfrage dargestellt und akzeptiert. Warum akzeptieren Sie das, warum schweigen Sie? Wollen Sie so die Demokratie überall verbreiten? Natürlich nicht. Als kurdische Menschen, Kräfte und politische Parteien können wir eine Katalysatorrolle spielen. Und das kann durch demokratischen Widerstand geschehen.

Welche Art von Kampf sollte im Jahr 2023, um die Isolation zu durchbrechen, geführt werden?

Millionen von Menschen werden sich fragen, warum es einen so hartnäckigen Widerstand und Protest gibt. Wenn der Widerstand und der Kampf sowohl in Kurdistan als auch im Ausland im Jahr 2023 verstärkt wird, wird dies zu mehr Ergebnissen führen. Vielleicht treffen wir uns nicht täglich mit Verantwortungsträgern, aber es gibt diese Gespräche. In diesen Gesprächen muss die Isolation im Vordergrund stehen. Wir sollten zumindest dafür sorgen, dass sie beginnen zu zweifeln, wenn es um die Umsetzung von Demokratie und Menschenrechte geht. Wir können die Gleichung ändern, indem wir sie dazu bringen, zu akzeptieren, dass die von ihnen aufgestellten Gesetze und Regeln für uns als nicht gültig betrachtet werden, dass wir aber auch Menschen sind und dass man sich uns gegenüber an die eigenen Gesetze halten sollte. Im Jahr 2022 hat der Widerstand des kurdischen Volkes ein gewisses Niveau erreicht, aber ich denke, dass dieser Widerstand noch gesteigert und verstärkt werden muss, bis wir Ergebnisse erzielen.