Muhammed Tunç in die Türkei abgeschoben

Trotz Haftbefehl, drohender Zwangsrekrutierung und Todesdrohungen ist Muhammed Tunç in die Türkei abgeschoben worden. „Wenn dem Mann etwas passiert, klebt an den Händen der Landesregierung Blut“, sagt sein Anwalt.

Nachdem seine Abschiebung zweimal durch ihn und das Engagement seines Anwalts und einer aktivistischen Öffentlichkeit verhindert werden konnte, wurde der kurdische Aktivist Muhammed Tunç am heutigen Donnerstag vom Frankfurter Flughafen in die Türkei ausgewiesen – obwohl ihm dort Inhaftierung, politische Verfolgung, Folter und im schlimmsten Fall sogar der Tod drohen. Drei Monate saß der 32-Jährige aus Ulm zuvor in Pforzheim in Abschiebehaft und war währenddessen immer wieder in den Hungerstreik getreten. Doch vergeblich. Die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg ließ bei der Fluggesellschaft Sundair eigens einen Charterflug mieten, mit dem Tunç in die Erdoğan-Diktatur ausgeflogen wurde.

Und das trotz eines Haftbefehls, der in der Türkei gegen Tunç wegen nicht geleistetem Wehrdienst vorliegt, und einer Vielzahl von Todesdrohungen, die der Kurde zusätzlich von Gruppierungen und Einzelpersonen aus türkisch-faschistischen Kreisen erhält. „Wenn dem Mann etwas passiert, klebt an den Händen der Landesregierung Blut“, äußerte Rechtsanwalt Detlef Kröger gegenüber Radio Dreyeckland (RDL). Der Jurist bezeichnete den Fall als Skandal und zeigte sich empört über die offenbar ohne Angabe von Gründen in letzter Minute zurückgezogene Vereinbarung über eine freiwillige Ausreise seines Mandanten.

Landesregierung hat ihre Grundsätze verraten

„Ich bin fassungslos über eine grüne Landesregierung, die einen grünen Ministerpräsidenten hat, die politisch aktive Kurden in die Türkei abschiebt“, sagte Kröger im RDL-Interview. Der Ulmer Rechtsanwalt hatte dem baden-württembergischen Justizministerium einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, um für Tunç eine Ausreise in einen alternativen Drittstaat zu erwirken. Dieser wurde wohl auch angenommen. Doch zu Krögers völligem Erschrecken habe sich das Ministerium dann doch nicht an die getroffene Vereinbarung gehalten und Tunç abschieben lassen. Damit habe die Landesregierung ihre Grundsätze „Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, Fairness“ verraten, so Kröger.

Todesdrohungen in Deutschland und in der Türkei

Seit die Pläne der baden-württembergischen Behörden zur Abschiebung von Muhammed Tunç bekannt sind, warnen kurdische Aktive in Deutschland vor einer extrem kritischen Bedrohungslage für den 32-Jährigen. Laut Kröger könnte Tunç „sogar ganz verschwinden“. Kurz bevor der Ulmer in Abschiebungshaft genommen wurde, war er von türkischen Nationalisten angegriffen worden und hatte eine Platzwunde auf dem Kopf erlitten. Als dann bekannt wurde, dass er in Haft sitzt, hätten sie ihm geschrieben: „Wir warten auf dich in der Türkei.“

Kröger sprach von „jede Menge Bedrohungen“, die in sozialen Netzwerken wie Facebook gegen seinen Mandanten auf Türkisch verfasst worden seien. Diese habe er verbunden mit einem Strafantrag an die Staatsanwaltschaft Ulm geschickt, die die Anzeige an die Behörden in Pforzheim weiterleitete. Dort habe man Ermittlungen aufgenommen und das Regierungspräsidium Karlsruhe darum gebeten, die Abschiebung so lange auszusetzen, bis der Fall zu Ende ermittelt ist. „Denn die Übersetzungen der Polizei haben eine Bedrohungslage ergeben“, so Kröger im Interview mit RDL. Das habe aber niemanden mehr gekümmert. „Wir haben eine nicht abgeschlossene Ermittlung bezüglich einer Bedrohungslage – und zwar mit Leib und Leben in der Türkei – öffentlich und für jeden zugänglich gemacht, so auch der Staatsanwaltschaft. Und trotzdem wird abgeschoben.“

Völlig unbegreifliche Zustände seien das, die mit Rechtsstaatlichkeit wenig zu tun hätten. Kröger glaubt, dass die Landesregierung den Fall Tunç auf diese Weise „loshaben“ wolle. Dort wisse man, dass es jetzt womöglich noch einen kurzen medialen Aufschrei gebe, die Sache dann aber „erledigt“ sei. „Das ist eine menschenverachtende Politik und ein menschenverachtender Umgang mit individuellen Schicksalen“, äußerte Kröger. Und er warnte: „Wir haben es jetzt im Verhältnis zu Russland gesehen: Wenn wir Kompromisse auf der Menschenrechtsebene machen, die faul sind, wenn wir uns auf solche Sachen einlassen, dann wird es uns irgendwann einholen. (…) In der Geschichte werden solche Sachen immer bestraft. Wir sind in unserer Russland-Politik bestraft worden, wir werden aber auch – und sich auch schon – in unserer Türkei-Politik bestraft. Ich verstehe diese Politik nicht.“

„Ich hoffe, er wird es überleben“

Muhammed Tunç droht in der Türkei aktuell die Zwangsrekrutierung. Wo er derzeit festgehalten wird, ist unklar. Bei der Beantragung eines Reisepasses im türkischen Konsulat in Stuttgart war ihm eigenen Angaben nach bereits gesagt worden, dass er dann „auf seine kurdischen Geschwister schießen muss“. Detlef Kröger ist besorgt. „Ich habe Angst“, sagte er. Und: „Ich hoffe, er wird es überleben.“

Tunç in der Türkei als „Feind“ gelistet

Muhammed Tunç ist 1989 in Ulm geboren und aufgewachsen und besitzt die türkische Staatsbürgerschaft. In der Türkei ist er aufgrund seines pro-kurdischen Engagements in Deutschland der Gefahr politischer Verfolgung, Haft und Folter ausgesetzt. Das wollte das baden-württembergische Justizministerium bis zuletzt nicht eingestehen. Die Behörde hielt die Abschiebung von Anfang an für vertretbar und rechtfertigte die Entscheidung mit einer „Straffälligkeit“ im Zusammenhang mit zwei Gerichtsurteilen gegen Tunç wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Verurteilungen erfolgten nach Auseinandersetzungen mit türkischen Nationalisten aus dem Umfeld der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Laut Tunç ist sein Name den Behörden in der Türkei als „Feind“ ein Begriff.