Der Gewerkschaftssekretär Mizgin Ciftci aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck tritt am 26. September als Direktkandidat der Linkspartei für ein Bundestagsmandat an. Einen aussichtsreichen Listenplatz hat der 29-jährige Sohn ezidisch-kurdischer Eltern, der ausgebildeter Deutsch- und Politiklehrer ist, schon. Nihal Bayram von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat mit ihm gesprochen.
Du hast Dich für eine Kandidatur bei der diesjährigen Bundestagswahl am 26. September entschieden. Was sind Deine Hauptgründe hierfür? Wie wichtig ist es in unserer heutigen Zeit, sich politisch und parlamentarisch zu engagieren?
Als Kind einer kurdischen Arbeiterfamilie, die wegen der Diktatur in der Türkei fliehen musste, hat Politik in meinem Leben immer eine Rolle gespielt. Auch in Deutschland hat meine Familie es nicht einfach gehabt. Mein Vater hat als Koch gearbeitet. Meine Mutter ist Reinigungskraft. Obwohl meine Eltern immer hart gearbeitet haben, hatten sie mit ihren Jobs nicht genug Geld für uns fünf Kinder. Durch mein Aussehen als Migrant war ich in der Schule von Rassismus betroffen.
Mit diesen Problemen kämpfen viele Menschen in Deutschland. Ich habe aber gelernt, dass man vor solchen Problemen nicht aufgeben darf, sondern sich erst recht für eine soziale und gerechte Gesellschaft einbringen muss. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns als Migrant:innen in der Politik einbringen und über unsere Sorgen und Probleme sprechen. Diese Aufgabe wird uns niemand abnehmen.
Was hat Dich zur Linkspartei gebracht? Was sind deine politischen Ziele dort?
DIE LINKE ist für mich die einzige Partei, die die Interessen der einfachen Leute, also die der Arbeiter:innen, der Erwerbslosen, der Migrant:innen, Rentner:innen in den Mittelpunkt stellt. Deshalb war es für mich als Kurde aus einer Arbeiterfamilie selbstverständlich, dass ich mich in dieser Partei engagiere. Unser Markenkern ist unser Einsatz für soziale Gerechtigkeit für alle Menschen, unabhängig von Nationalität oder Pass. Wir wollen, dass alle Menschen, die jeden Tag arbeiten und den Reichtum dieser Gesellschaft produzieren, an diesem Reichtum teilhaben und nicht mit befristeten Arbeitsplätzen und Hungerlöhnen abgespeist werden.
DIE LINKE ist außerdem die einzige Partei, die sich offen für das Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen einsetzt und sich gegen das Erdogan-Regime stellt. Wir verurteilen öffentlich die Menschenrechtsverletzungen dieses NATO-Staates. Es gibt also genug Gründe, sich als Kurde mit der LINKEN zu identifizieren.
Warum sollen Stimmberechtigte Dich und damit die Linkspartei wählen?
Ich rufe alle Arbeiter:innen, Rentner:innen und Selbständigen auf, DIE LINKE zu wählen. Ich setze mich dafür ein, dass sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze mit Tarifbindung geschaffen werden. Ich möchte, dass Milliardäre mit einer Vermögenssteuer stärker an der Finanzierung des Sozialstaats und durch einmalige Vermögensabgabe an den Krisenkosten beteiligt werden. Wir haben in der Corona-Krise gesehen, wer die Gesellschaft wirklich am Laufen hält. Das waren die Pfleger:innen, die Kassierer:innen, die Erzieher:innen und Lehrkräfte und nicht irgendwelche Bänker und Aktionäre. Deshalb ist eine Stimme für mich und DIE LINKE ein Zeichen für mehr soziale Gerechtigkeit. Ich will aber nicht, dass mit unserer Wahl alles erledigt wäre. Wenn wir wirklich eine sozial-gerechte Gesellschaft wollen, dann müssen wir uns als Bewegung begreifen, uns in den Betrieben gewerkschaftlich organisieren und gegen menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse kämpfen. Dass wir einfachen Leute nicht die Krisenkosten tragen, können wir nur erreichen, wenn wir eine starke Bewegung auf der Straße haben und eine starke LINKE im Bundestag. Für diese Bewegung will ich ein Sprachrohr im Parlament sein.
Welche Schritte hast Du für die nächsten Wochen geplant? Welche Art von Wahlkampf möchtest Du gezielt durchführen?
Ich bin nicht nur in meinem Wahlkreis in Osterholz und Verden unterwegs, sondern niedersachsenweit. Mit meinem Team führen wir Gespräche mit vielen Bündnispartner:innen und Verbänden wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Betriebsräten, Flüchtlingsrat Niedersachsen und migrantischen Vereinen durch. Mich interessieren ihre Meinung und Erwartungen an mich als Kandidaten und an uns als Partei.
In meinem Wahlkreis werden wir das Gespräch mit den Menschen suchen und bis zu den Bundestagswahlen 5.000 Haustürgespräche durchführen, um direkt zu erfahren, was den Leuten unter den Fingern brennt und welche Themen für sie wichtig sind. Ein großer Teil meines Wahlkampfs findet außerdem online in den sozialen Medien statt. Dort wollen wir auch mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen und sie für DIE LINKE gewinnen. Mit neuen Formaten wie Instagram-Live-Gespräche organisiere ich Talkrunden zu wichtigen Themen. Vor einer Woche hatte ich ein Online-Gespräch mit meiner Genossin Daphne Weber und dem Aktivisten Kerem Schamberger zur Situation in Kurdistan und der Verantwortung Deutschlands. Am 29. Juli hatte ich ein Online-Talk mit der renommierten Autorin und Journalistin Ronya Othmann zur Frage, ob eine Gesellschaft ohne Rassismus möglich ist und was wir dafür tun können. Weitere Aktionen und Talkrunden werden noch folgen.
Als kurdische Bürgerinnen und Bürger hier in Deutschland, als Teil der Migrantinnen und Migranten ist es für uns wichtig, welche Themen Du als Abgeordneter vor allem zur Migrations- und Flüchtlingspolitik angehen möchtest.
Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Diese Realität müssen die Konservativen und Rechten endlich anerkennen. Migrant:innen sind nicht mehr nur Putzkräfte oder Hilfsarbeiter:innen, sondern auch Ärzt:innen, Lehrkräfte und Politiker:innen. Die Migration nach Deutschland ist eine Realität, die keine Regierung stoppen kann. Ich will für eine offene und demokratische Gesellschaft frei von Ausgrenzung und Diskriminierung kämpfen. Ich setze mich deshalb für einen Richtungswechsel hin zu einer humanitären Flüchtlingspolitik ein.
Wir müssen zuerst das Massensterben im Mittelmeer beenden. Die zivilen Seenotrettungsorganisationen, die eine unfassbar humanitäre und wichtige Arbeit leisten, müssen wir als Staat unterstützen. Wir müssen aber auch verhindern, dass Menschen fliehen müssen. Das kann nur funktionieren, wenn wir als EU aufhören, die Lebensgrundlagen dieser Menschen zu zerstören.
Für uns Kurd:innen bedeutet das konkret, dass Deutschland seine Waffenlieferungen an die Türkei beendet und den Flüchtlingsdeal mit Erdogan aufkündigt, um sich nicht länger erpressbar zu machen. Es braucht ehrliche Friedensverhandlungen zwischen der Türkei und den Kurd:innen. Dafür muss in Deutschland das Verbot der PKK gekippt und Rojava als Selbstverwaltungsregion und damit Verhandlungspartner Deutschlands anerkannt werden.
Um generell Menschen in Not zu helfen, nicht die gefährliche Flucht über das Mittelmeer auf sich zu nehmen, müssen Aufnahmeprogramme, die es teilweise bis 2015 gab wieder aufgelegt werden, damit direkt Menschen aus den Krisenregionen hier aufgenommen werden. Viele Kommunen in Deutschland aus dem Bündnis „Sicherer Hafen“ haben sich bereit erklärt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Dies ist aber an der Blockadehaltung des Innenministers Seehofer gescheitert.
Um die Beteiligung von Migrant:innen in der Gesellschaft zu erhöhen, muss das Aufenthaltsrecht radikal reformiert werden. Den Flüchtlingen muss sofort eine Arbeitserlaubnis erteilt werden und nicht wie aktuell vorgesehen, über Monate oder teilweise über Jahre in Aufnahmelagern gefangen gehalten werden. Das Recht zur Einbürgerung muss nach maximal fünf Jahren für alle gegeben werden. Nur, wenn Menschen echte Mitbestimmung in der Gesellschaft haben, können sie sich einbringen. Es kann zumindest nicht sein, dass 14 Prozent der Bevölkerung nicht über ihre Probleme mitbestimmen darf, weil die Menschen kein Wahlrecht haben, obwohl sie hier arbeiten, ihre Steuern zahlen und ihre Kinder groß ziehen. Deswegen fordere ich auch das Wahlrecht für alle dauerhaft hier lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.
NGOs sind lebenswichtig für die Demokratie, die parlamentarische Arbeit ist von grundlegender Bedeutung, Veränderungen in einem staatlichen System zu realisieren. Wie ist das aktuelle Gleichgewicht zwischen den Interessen von Politik und NGOs in Deutschland?
Man sollte sich nicht der Illusion hergeben, dass Veränderungen in der Gesellschaft aus dem Parlament durchgesetzt werden. Um etwas in der Gesellschaft zu verändern, brauchen wir Menschen, die ihre Interessen erkennen, sich zusammenschließen und auf der Straße laut werden. So laut werden, dass sie von den Parteien nicht mehr überhört werden können.
Ein gutes Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung. Seitdem viele Schüler:innen, Studierende und andere Aktive über Monate gestreikt und protestiert haben, hat die Politik erkannt, dass die Klimafrage für unser Überleben auf diesem Planeten eine zentrale Frage ist, die viele Menschen bewegt. Ein anderes Beispiel ist das Volksbegehren Deutsche Wohnen Enteignen in Berlin. Über 320.000 Menschen haben für das Volksbegehren in Berlin unterschrieben, um für niedrige Mieten und sozialen Wohnungsbau zu kämpfen.
Wir als LINKE sagen ganz klar, dass außerparlamentarische und parlamentarische Arbeit Hand in Hand gehen muss. Unsere Genoss:innen sind in vielen Initiativen und Gewerkschaften vor Ort verankert und kämpfen gemeinsam mit den Betroffenen. Als Abgeordneter will ich diese Kämpfe in die Parlamente tragen und für Mehrheiten dafür sorgen, damit die Forderungen umgesetzt werden.