Kurdische Kulturwochen in Kiel: Veranstaltung mit Kerem Schamberger

In Kiel hat im Rahmen der noch bis Dezember andauernden kurdischen Kulturwochen eine Veranstaltung unter dem Titel „Nach dem Sieg Erdoğans und der AKP – Die Situation der Kurd:innen nach den Wahlen in der Türkei“ mit Kerem Schamberger stattgefunden.

Die Opposition setzte große Hoffnungen in die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai 2023. Doch sie wurde enttäuscht. Mit der geballten Macht des Staates im Rücken konnte Erdoğan sich zum dritten Mal zum Präsidenten ausrufen lassen, obwohl eine erneute Kandidatur verfassungswidrig war. Trotz vieler Wahlunregelmäßigkeiten, Wirtschaftskrise und der Erdbebenkatastrophe haben Erdoğan und die AKP nach wie vor eine relativ große Unterstützung in der Bevölkerung. Die Wahl war geprägt von Nationalismus und Ausgrenzung gegenüber Kurd:innen und Geflüchteten. Das linke Wahlbündnis für Arbeit und Freiheit stand unter hohem Druck. Während des Wahlkampfes wurden hunderte kurdische Politiker:innen und Aktivist:innen festgenommen; ein Ausblick darauf, was die kurdische Freiheitsbewegung künftig zu erwarten hat.

Kerem Schamberger, Kommunikationswissenschaftler und Autor, berichtete am Donnerstag in der Hansa48 in Kiel vor 80 Anwesenden über die verheerende Lage nach dem Erdbeben und der Wiederwahl Erdoğans. Die Veranstaltung, die im Rahmen der noch bis Dezember andauernden kurdischen Kulturwochen in Kiel stattfand, und von Defend Kurdistan Kiel, dem Kurdistan-Solidaritätskomitee Kiel und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig Holstein organisiert wurde, thematisierte zunächst die Entstehung der Türkei. Als Grundlage der Staatsentwicklung kann die Entstehung und Entwicklung eines homogenen Staatsvolkes betrachtet werden, welches Kurd:innen, Armernier:innen und andere ausgrenzte, verfolgte und ermordete. Verbote der kurdischen Sprache und Kultur weckten Widerstand, der jedoch blutig in den Massakern der 1920er Jahre, aber auch im Dersim-Massaker 1937/38 niedergeschlagen wurde. Der Widerstand des kurdischen Volkes konnte nicht gebrochen werden und kulminierte, nach kontinuierlicher Vertreibung und Krieg gegen Kurd:innen, in der Gründung der PKK im Jahr 1978. Nach dem Friedensprozess in den Jahren 2012 bis 2015, der durch die AKP beendet wurde, kam es zur blutigen Niederschlagung kurdischer Selbstverwaltungen in Amed und anderen Städten. Ganze Städte wurden dabei zerstört, über 5000 Kurd:innen ermordet und über 300.000 vertrieben. Vertreibung, Unterdrückung und Terror gegen die Zivilbevölkerung wie in Nordkurdistan sind heute auch in Westkurdistan (Rojava) zu beobachten.

Kerem Schamberger machte in seinem Vortrag auf die Kontinuität der Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Kurd:innen aufmerksam und stellte einen Bezug zum Umgang des türkischen Staates nach dem schweren Erdbeben her, das Kurdistan und die Türkei im Februar 2023 erschütterte. Hilfsgüter wurden nach Loyalität zur AKP-Regierung verteilt und das Erdbeben wurde für eine breite Umsiedlungskampagne genutzt, wobei Betroffene des Erdbebens ihre Heimat verlassen mussten. Als Abschluss der historischen Aufarbeitung der Unterdrückung und Verfolgung von Kurd:innen verwies Schamberger auf die beeindruckende Selbstorganisation der kurdischen Freiheitsbewegung. Vereine, Organisationen und die HDP schafften es innerhalb kurzer Zeit, ohne staatliche Unterstützung Hilfsgüter zu liefern und ein Netzwerk aufzubauen.

Im Anschluss an die Betrachtung der historischen Entwicklung standen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Zentrum der Betrachtung. Ziel war es, die Frage zu klären, wie es Erdoğan und der AKP trotz Wirtschaftskrise und kaum vorhandener Unterstützung der Erdbebenopfer gelingen konnte, die Wahlen zu gewinnen. Von zentraler Bedeutung waren hierbei Repression und Manipulation. Seit Jahrzehnten werden Mitglieder der Opposition verhaftet und in den Gefängnissen festgehalten. 25.000 Mitglieder der HDP sind kurz-, mittel- oder langfristig inhaftiert. Diese Umstände verhindern eine effektive Oppositionsarbeit. Jedoch ist laut Schamberger nicht nur der Autoritarismus für die Wahlergebnisse verantwortlich. Bezugnehmend auf die Arbeiten des Soziologieprofessors Cihan Tuğal trugen auch wirtschaftspolitischer und geopolitischer Nationalismus sowie Massenorganisationen zum Wahlsieg Erdoğans bei, erklärte Kerem Schamberger. Konkret sind es mafiöse Strukturen beispielsweise im Baugewerbe, die dafür sorgen, dass Loyalität zur AKP durch Aufträge belohnt wird. Aber auch die Verteilung von Almosen durch Stiftungen an besonders loyale AKP-Anhänger spielt eine Rolle.

Diese wirtschaftspolitischen Aspekte des Nationalismus werden durch geopolitische Aspekte ergänzt. Erdoğan versucht, die Türkei als Regionalmacht zu etablieren und seine imperialen Träume eines neoosmanischen Reiches zu verwirklichen. Er beschwört dabei einen geopolitischen Nationalismus, der bei seinen Anhängern auf fruchtbaren Boden fällt.  Ergänzt wird der Nationalismus durch Massenorganisationen der AKP wie Jugendorganisationen, Vereine und Gewerkschaften, die Loyalität gegenüber der Regierung sicherstellen und eine Begegnung mit oppositionellen Gedanken verhindern sollen. Schamberger thematisierte auch Gedanken des kurdischen Schriftstellers Mehmed Emîn Bozarslan, der ideologische Komponenten in den Vordergrund seiner Analyse stellt. Laut Bozarslan ist die Unterstützung für rechtes Gedankengut in der Türkei historisch gewachsen. Die Ideologie des Türkentums ist in der Gesellschaft durch Nationalismus und Überlegenheitsgefühle stark verankert. Außerdem ist die Gesellschaft in der Türkei von der Angst geprägt, Teile des Landes zu verlieren. Diese Ängste werden mit Referenzen zum Osmanischen Reich bewusst geschürt und generationenübergreifend weitergegeben.

Als Abschluss seines Vortrags gab Kerem Schamberger einen Ausblick auf einen möglichen Weg, die Unterdrückung des kurdischen Volkes zu beenden und die Entwicklung einer Demokratie in der Türkei voranzutreiben. Es besteht die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution. Diese kann jedoch nur von der Gesellschaft selbst ausgehen, weshalb es Organisierung innerhalb der Gesellschaft braucht. Das Hauptaugenmerk sollte nicht mehr auf Wahlen liegen, sondern auf der Selbstorganisierung und dem Aufbau von Gegenhegemonie von unten. Nur so kann der Grundstein für eine Lösung der kurdischen Frage gelegt werden.