Wegen eines Kunstwerks mit Regenbogenflagge an der Boğaziçi-Universität hat die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul bis zu drei Jahren Haft gegen sieben Studierende gefordert. Sie werden nach Artikel 216/1 beschuldigt, zu „Hass, Feindschaft oder Erniedrigung“ aufgerufen zu haben. Der Paragraph entspricht nach deutscher Rechtsprechung der Volksverhetzung. Zwei der Angeklagten befinden sich seit Ende Januar in Untersuchungshaft.
Das kriminalisierte Kunstwerk, das ihm Rahmen einer von der Kunstfakultät organisierten Ausstellung gezeigt wurde, stellt den Hof der Großen Moschee von Mekka dar. In dessen Zentrum ist statt der heiligen Kaaba ein Bild der mythischen Figur Şahmaran zu sehen, die in Anatolien, Kurdistan und anderen Regionen im Mittleren Osten als Göttin der Weisheit und Beschützerin von Geheimnissen gilt. Auf eine der oberen Ecken des Bildes wurde eine kleine Regenbogenfahne montiert, das Symbol der LGBTI+-Gemeinde.
Die Ausstellung war Teil des Protestcamps auf dem Unigelände, die Urheber*innen sind nicht bekannt. Zwei der angeklagten Studierenden wird auf Grundlage von Aussagen des Sicherheitspersonals vorgeworfen, das Bild in der Ausstellung auf dem Campus aufgehängt zu haben. Beide bestreiten das. Das Verfahren war eingeleitet worden, nachdem regierungstreue Medien eine Lynch-Kampagne über ein angeblich blasphemisches Bild entfacht hatten, um gegen die Proteste an der Universität gegen die Einsetzung eines Zwangsverwalters zu kriminaliseren.
Die Studierenden und Lehrkräfte der renommierten Hochschule am Bosporus sowie Unterstützende protestieren seit Anfang Januar gegen die Ernennung des Erdoğan-Günstlings Melih Bulu zum Rektor und damit gegen die Übergehung der akademischen Autonomie. Die staatliche Reaktion auf die Proteste ist von extremer Homophobie geprägt, da sich auch LGBTI+-Personen daran beteiligen. Sie werden besonders stigmatisiert und als „Terroristen” kriminalisiert. Seit Beginn der Proteste wurden knapp 600 Studierende gewaltsam festgenommen, unter anderem bei martialischen Razzien, elf inhaftiert und 24 in Hausarrest genommen. Dutzende mussten in Gewahrsam Nacktdurchsuchungen erdulden, wurden beschimpft und geschlagen. Mehrere Betroffene, vor allem LGBTI+-Personen, berichteten zudem von Vergewaltigungsandrohungen. Der LGBTI+-Studienverein auf dem Campus der Boğaziçi ist mittlerweile auf Entscheidung des Zwangsverwalters geschlossen worden.
Das kriminalisierte Bild: Die Şahmaran und Regenbogenfahnen
Anklageschrift bei Landgericht eingereicht
Die Anklageschrift gegen die sieben Studierenden wurde am Freitag bei der Strafkammer des Landgerichts Istanbul eingereicht. Eine Entscheidung darüber, ob das Gericht die Anklage zulässt, wird für kommende Woche erwartet. Derweil laufen weitere Ermittlungen im Zusammenhang mit dem LGBTI+-Studienverein. Bei der Razzia in den Räumlichkeiten soll ein Buch mit PKK-Fahne auf dem Cover gefunden worden sein.