Am 8. Januar 1996 versuchte die damalige Journalistin und heutige Abgeordnete der DEM-Partei, Kezban Konukçu, ebenso wie der Korrespondent der Zeitung Evrensel, Metin Göktepe, die Beerdigung ermordeter revolutionärer Gefangener am Cem-Haus in Alibeyköy zu begleiten. Ihre Leben berührten sich hier, als sie beide in den Polizeikessel gerieten. Während Konukçu als Korrespondentin der Zeitung Direniş (Widerstand) auf die Polizeiwache gebracht wurde, wurde Metin Göktepe von der Polizei in der Sporthalle von Eyüp zu Tode gefoltert. Im ANF-Gespräch erinnerte sich Konukçu an dieses Ereignis vor fast genau 28 Jahren.
„Kurdische Journalist:innen wurden ermordet, Sozialist:innen gefoltert“
Kezban Konukçu war zwischen 1995 und 1997 als Journalistin für die sozialistische Zeitung Direniş in Istanbul aktiv. Sie berichtete, dass die Repression gegen Journalist:innen in dieser Zeit massiv war. Kurdische Journalist:innen seien sofort ermordet worden, während Sozialist:innen im Westen der Türkei gefoltert und misshandelt wurden. In einer solchen Atmosphäre der Unterdrückung habe sie als Journalistin die gleichen Ereignisse verfolgt wie der Evrensel-Korrespondent Metin Göktepe.
„Als ich festgenommen wurde, habe ich Metin gesehen“
Konukçu erinnerte daran, dass die Haftanstalten eines der Ziele intensiver staatlicher Repression waren, und verwies auf die Morde an vier Revolutionären im E-Typ-Gefängnis von Ümraniye. Die Wärter hatten die Gefangenen bei der blutigen Niederschlagung eines Gefängnisaufstands getötet. Aufgrund der Morde entstand eine große öffentliche Empörung. Die Beerdigungen der Ermordeten wurden zu Zielscheiben von Angriffen. Konukçu besuchte am 8. Januar 1996 genau wie Metin Göktepe als Journalistin die Beerdigung der politischen Gefangenen Orhan Özen und Rıza Baybaş am Cem-Haus in Alibeyköy. Tausende wollten an der Beisetzung teilnehmen. „Ich war mit einem Bus der Stadtverwaltung unterwegs zu den Beerdigungen. Die Gegend um das Cem-Haus, wo die Beerdigungen der revolutionären Gefangenen stattfinden sollten, war von der Polizei abgeriegelt. Die Busse mussten einer nach dem anderen wenden, und es wurden Personalienkontrollen durchgeführt. Als unser Bus an der Reihe war, wandte sich die Polizei, als sie die Kamera um meinen Hals sah, direkt an mich und verlangte meinen Presseausweis. Als ich den Reporterausweis der Zeitung Direniş vorzeigte, sagten sie: ‚Raus aus dem Bus, sozialistische Presse nach draußen.‘ Da zu dieser Zeit eine große Repression gegen die Presse ausgeübt wurde, stiegen alle Leute im Bus, die sahen, wie ich hinausgedrängt wurde, ebenfalls aus. Ich erinnere mich, dass ich Metin dort gesehen habe, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen, weil sie uns in einen Gefangenentransporter steckten. Wir wurden zum für Folter berüchtigten Polizeirevier Küçükköy gebracht. Sie konnten uns nicht einmal in der Gefangenensammelstelle unterbringen, weil wir so viele waren.“ Tatsächlich wurden 1.052 Menschen festgenommen und auf verschiedene Reviere verteilt, 705 landeten aus Platzmangel in der Sporthalle des Bezirks Eyüp – darunter auch Metin Göktepe.
„Sie ließen alle in höchster Eile frei“
Die Abgeordnete berichtete weiter: „Sie wählten fünfzehn Personen unter uns aus, die zur Terrorabteilung geschickt werden sollten. Um 23 Uhr setzten sie uns alle, einschließlich der 15 Freunde, eiligst in Busse und ließen uns an einem zentralen Ort frei. Wir waren überrascht, dass sie so in Eile waren. Da es zu dieser Zeit noch keine Handys gab, erfuhren wir die Nachricht nicht sofort. Erst am Morgen verstanden wir den Grund für ihre Eile. Sie hatten Metin, der an diesem Tag am selben Ort festgenommen und in die Eyüp-Sporthalle gebracht worden war, zu Tode geprügelt.“
„Nach dem Mord an Metin nahm die Repression zu“
An der Beerdigung von Metin Göktepe nahmen Zehntausende Menschen teil. Sie seien kilometerweit gelaufen, um Gerechtigkeit zu fordern, sagte Konukçu und beschrieb, wie nach der Ermordung von Metin Göktepe erneut sie und andere Journalist:innen ins Fadenkreuz der Polizei gerieten: „Die Polizisten, die unsere Presseausweise kontrollierten, zogen uns raus und schrien ‚Sozialistische Presse, nieder mit euch‘. Zu dieser Zeit hatten wir Freunde, die in den Mainstream-Medien arbeiteten und Demokraten waren. Ahmet Şık war einer dieser Freunde. Er arbeitete damals bei der Zeitung Cumhuriyet und verteidigte uns an diesem Tag sofort gegen Polizeigewalt, indem er sagte: ‚Lasst unsere Freunde gehen.‘ Sonst hätten sie unsere Fotos beschlagnahmt, unsere Kameras zerbrochen oder uns offen gefoltert.“
„Die Repression hat sich nicht geändert, aber die Solidarität ist schwächer“
Konukçu erinnerte daran, dass sich die staatliche Repression bis heute nicht geändert habe und dass die freie Presse und politischen Gefangenen immer noch heftigen Angriffen ausgesetzt sind. Die Solidarität hingegen habe nachgelassen. In der Vergangenheit habe man mit Menschen demonstriert, die wirklich an die Revolution glaubten, heute in der „postfaktischen Ära“ sei vieles sinnentleert worden und die Praxis des Herrschens durch Diskurskontrolle und „Anschein“ habe zugenommen. Immer mehr Menschen fielen auf diese Suggestionen herein. In direkter Verbindung zu dieser Entwicklung sei auch in den politischen Bewegung zu beobachten, dass das Kriterium nicht mehr sei, ob man etwas systematisch verändere und umgestalte, sondern wie viele „Likes“ man erhalte und wie sichtbar man sei.
„Wir müssen den Weg und die Methoden des gemeinsamen Kampfes stärken“
Es sei notwendig, diese Fakten richtig zu verstehen und sie zu diskutieren, sagte Konukçu weiter: „Was wichtig ist, ist die Haltung, dass man die Macht der Kapitalisten durch den gemeinsamen Kampf der Unterdrückten und Werktätigen beenden muss. Da der revolutionäre Kampf schwächer geworden ist, sind auch die Methoden des gemeinsamen Kampfes im Vergleich zu früher schwächer geworden. Heute gibt es genausoviel Unterdrückung, es gibt kein Gesetz mehr, das Ausbeutungssystem ist immer krasser geworden, es gibt Hungerstreiks in den Gefängnissen. Heute müssen wir Wege und Methoden organisieren, um gemeinsam gegen all diese Probleme zu kämpfen. Es soll ein System wie in Nazi-Deutschland aufgebaut werden, das müssen wir begreifen, richtig verstehen und die richtige Kampflinie dagegen stärken. So wie es möglich ist, die Erinnerung an Metin Göktepe lebendig zu halten, indem man seine Werte verteidigt, kann der Kampf nur durch gelebte Arbeit und nicht durch Selbstdarstellung geführt werden.“