Kommentar: Erdoğan wird sich entscheiden müssen

Im Schwarzen Meer lassen die USA und Russland die Muskeln spielen. Washington beschwört dabei die Zusammenarbeit innerhalb der NATO. Die neue US-Regierung wird versuchen, Ankara wieder an das Bündnis anzunähern.

Bereits kurz nach dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden gibt es die erste Krise zwischen den USA und Russland. Am 25. Januar passierte der Zerstörer USS Donald Cook der United States Navy den Bosporus in Richtung Schwarzes Meer, woraufhin drei Schiffe der russischen Marine, darunter zwei Zerstörer, ebenfalls dorthin ausliefen. Zudem reagierte Moskau mit der Stationierung eines Raketenabwehrsystems sowie einer Militärübung an den Ufern der Krim. Am 28. Januar begab sich dann mit der USS Porter ein weiterer US-Zerstörer ins Schwarzmeer-Gewässer. Laut einem Tweet des Europa-Afrika-Kommandos der US-Marine sind die Schiffe zusammen mit Flugzeugen vom Typ P-8 Poseidon der US-Marine an einer „maritimen Operation“ beteiligt, deren Ziel die „weitere Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen NATO-Partnern“ sei.

Erdoğan muss eine Entscheidung treffen

Die jüngste Krise im Schwarzen Meer kann als Ausdruck einer neuen Phase im Konflikt zwischen Washington und Moskau gesehen werden. Aber die von den USA auf die „Zusammenarbeit zwischen NATO-Partnern“ gelegte Betonung gibt auch Hinweise auf die Zukunft des Verhältnisses zwischen beiden Seiten. Beobachter glauben, dass die Biden-Regierung versuchen wird, die Türkei wieder stärker an die USA und den Westen zu binden. Noch während Donald Trumps Amtszeit kritisierte der demokratische Senator Chris Van Holden, dass Trump sich vor der Verhängung von Sanktionen gegen die Türkei Mitte Dezember letzten Jahres wiederholt geweigert habe, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan für sein Handeln zu Verantwortung zu ziehen. Die Politik der türkischen Regierung würde laut Van Holden die Sicherheit der Vereinigten Staaten anderer NATO-Mitglieder untergraben. Deshalb müsse Erdoğan eine Entscheidung treffen: „Will er ein treuer Verbündeter der NATO sein oder wird er einen Alleingang in der Region machen?“

Die Türkei spielt ihr eigenes Spiel

Der von Van Holden angesprochene „Alleingang“ richtet sich dabei aber keineswegs vollkommen in Richtung Russland aus. Zwar hat sich die türkische Politik auf Moskau zubewegt, an vielen Orten, von Libyen über das östliche Mittelmeer und den Kaukasus bis nach Syrien, stehen die Interessen beider Regierungen einander aber immer wieder entgegen. Die Türkei versucht durch den Bruch mit den bestehenden Einflussverhältnissen ihr eigenes Spiel zu spielen. Während Ankara im östlichen Mittelmeer oder im Kaukasus am Rande eines Krieges steht beziehungsweise direkt in einen Krieg verwickelt ist, versucht sie an diesen Orten gleichzeitig multipolare Beziehungen aufzubauen, indem sie diversen Konfliktparteien gegenüber unterschiedliche Zugeständnisse macht.

Wirkungslose Sanktionen

Während Trumps Amtszeit allgemein als vorteilhaft für Erdoğans Regierung gesehen werden kann, so fallen auch diverse Spannungen zwischen beiden Ländern in diesen Zeitraum. Nach der Verhängung von Sanktionen wegen der Inhaftierung des US-amerikanischen Pastors Andrew Brunson fiel die ohnehin schon angeschlagene türkische Lira auf ein historisches Tief. Auch wegen des Kaufs des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und der türkischen Invasion in Nordsyrien verhängten die USA unter Trump weitere Sanktionen. Die späteren Strafmaßnahmen hatten aufgrund ihrer Art und ihres geringen Ausmaßes aber nicht ansatzweise einen ähnlich starken Effekt auf die türkische Wirtschaft wie es während der Brunson-Krise der Fall war. So wurden innerhalb von Trumps Amtszeit zwar insgesamt fünf Mal Sanktionen verhängt, in vier Fällen jedoch ohne wirklich spürbare Konsequenzen für die Türkei.

Weitere Sanktionen sind möglich

Laut dem neuen US-Außenminister Antony Blinken sei es „nicht zu akzeptieren, dass die Türkei als NATO-Mitglied ein russisches Raketenabwehrsystem kauft.“ Die Türkei sei zwar NATO-Mitglied, aber verhalte sich häufig nicht so. „Das bringt uns in eine schwierige Lage“, sagt Blinken. Deshalb behält der neue Außenminister es sich vor weiter zu prüfen, ob die von Trump in den letzten Tagen seiner Amtszeit erlassenen Sanktionen angesichts der Situation wirklich ausreichend sind.

Erdoğan geht auf Konfrontationskurs

Es stellt sich also die Frage, wie sich die Türkei gegenüber Bidens Regierung positionieren wird. Mitte Januar gab Erdoğan in einer Rede diesbezüglich den starken Mann: „Unsere Treffen für ein weiteres Paket mit Russland gehen weiter. Wir werden nicht akzeptieren, dass NATO-Länder unseren Kurs vorgeben wollen.“ Auftritte wie dieser zeigen, dass die USA es weiterhin nicht einfach haben werden mit der Türkei. Diese Rhetorik ist jedoch nicht als Ausdruck einer tatsächlichen Machtposition Erdoğans anzusehen. Sie ist vielmehr die Konsequenz eines neuen Machtgefüges, in dem die USA ihre Rolle als Hegemon verloren haben, und gleichzeitig ein Ausdruck einer türkischen Außenpolitik, die schon länger dem Prinzip „stur bleiben selbst wenn die Kraft nicht reicht“ folgt. Bidens Administration hat schon jetzt klar gemacht, dass sie der Türkei bei solchem Verhalten nicht den gleichen Spielraum lassen wird, wie Trump es getan hat. Dabei ist aber davon auszugehen, dass das Ziel von Bidens Politik nicht sein wird, die Türkei handlungsunfähig zu machen, sondern sie stattdessen wieder unter die Kontrolle der NATO zu bringen. Gleichzeitig wirkt das Bündnis der AKP mit der rechtsradikalen MHP als Katalysator für eine Fortführung der aggressiven türkischen Außenpolitik auch entgegen den Interessen der NATO.

Alte Streitpunkte werden neu verhandelt

Die Neuausrichtung im Verhältnis zwischen Washington und Ankara wird also einige aus den letzten Jahren bekannte Streitpunkte erneut in den Fokus bringen: die S-400-Krise, der türkische und russische Expansionismus in Syrien, die Beziehungen der USA zu den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und den Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Forderung nach einer Auslieferung des in den USA lebenden Predigers Fettullah Gülen und die Rolle der türkischen Halkbank bei der Umgehung von Sanktionen gegen den Iran. Dabei wird sich anhand der Beziehungen zwischen der neuen US-Regierung und Erdoğan zeigen, ob es zu einer Wiederannäherung der Türkei an die NATO kommen wird oder nicht.