KJK: Die Ermordung von George Floyd ist kein Einzelfall

Die KJK fordert, die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd in den USA nicht als Einzeltat abzutun: „Rassismus und Nationalismus haben ein System und sind ein äußerst effizientes ideologisches Instrument von Staat, Macht und Herrschaft.“

Die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) hat eine ausführliche Erklärung zum Tod von George Floyd in Minneapolis abgegeben:

Die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd während eines Polizeieinsatzes am 25. Mai 2020 in Minneapolis/USA ist erschütternd. Wir verurteilen dieses von der Staatsmacht verübte und eindeutig rassistisch motivierte Verbrechen und sprechen den Angehörigen unser tiefes Mitgefühl aus. Diese Tat ist weder die Erste noch wird sie leider die Letzte ihrer Art sein. Erst am 19. Februar diesen Jahres wurden in der deutschen Stadt Hanau zehn Personen aus rassistischen Motiven ermordet. Es vergeht kein Tag, an dem kein*e Kurd*in aufgrund ihrer oder seiner Ethnie angegriffen und ermordet wird. Überall gibt es Gruppen, die als Feinde deklariert und infolgedessen angegriffen werden.

Wir dürfen diese Art von Verbrechen nicht als Einzeltat abtun. Wir müssen sie im Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Zustände betrachten. Nationalismus und Rassismus können nicht kritisch hinterfragt und effektiv bekämpft werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den Realitäten von Nationalstaat und Kapitalismus betrachtet werden. Rassismus und Nationalismus haben ein System und sind ein äußerst effizientes ideologisches Instrument von Staat, Macht und Herrschaft.

Wir Kurdinnen und Kurden befassen uns als Betroffene seit längerem mit den Ursprüngen von Nationalismus und Unterdrückung. Als ein Volk, das seit Jahrhunderten für die eigenen Rechte und Freiheiten kämpft, versuchen wir die Unterdrückung, der wir ausgesetzt sind, zu verstehen, um sie bekämpfen und überwinden zu können. Wir gehen der Frage nach, ob Unterdrückung etwas Natürliches ist, ob es immer so war oder ob es im Laufe der Menschheitsgeschichte erschaffen wurde. Die Antwort lautet eindeutig, dass Unterdrückung nichts Natürliches ist. Sie ist ein menschliches Produkt zur Erlangung von Macht und Herrschaft.  

Die Hauptprobleme unserer Zeit wie die Klimakatastrophe, Umweltzerstörung, Krieg, Armut, Flucht und Vertreibung, Pandemien und vieles mehr haben ihren Ursprung in Macht und Herrschaft. Die in Gräueltaten mündenden Machtverhältnisse werden ideologisch durch eine bestimmte Mentalität gestützt. 

Diese Mentalität, die Hierarchien und Machtverhältnisse zwischen Mensch und Natur, zwischen Geschlechtern, zwischen Ethnien und Religionen, zwischen Hautfarbe, Kultur und Klassen aufbaut, ist die Ursache für diese Art von Verbrechen und Unrecht.

Wie sonst könnte eine bestimmte Gruppe andere Menschen beherrschen, unterdrücken und ausbeuten? Allein mit physischer Gewalt lässt sich das nicht durchsetzen. Natürlich spielt physische Gewalt eine wesentliche Rolle, aber ohne eine Mentalität, welche die einen als Subjekte und die anderen als Objekte klassifiziert, kann diese seit Jahrtausenden bestehende Herrschaftsform nicht aufrechterhalten werden.

Auf diese Weise entstehen Hierarchien und Machtverhältnisse, in denen die Herrschenden - seien es Männer, Weiße, Reiche oder andere „Privilegierte“ - es als ihr natürliches Recht verstehen, die „Nicht-Privilegierten“ zu missbrauchen, auszubeuten und zu ermorden. Diese Mentalität ist verantwortlich für das Entstehen von rechtsfreien Räumen.

Die Ermordung von George Floyd sollte zudem als Teil eines Krieges gesehen werden, den ein Staat gegen die Gesellschaft führt. Vor allem durch die Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen und Ausweitung der Befugnisse für Sicherheitskräfte sind unliebsame Bürger*innen noch stärker gefährdet. Je mehr Menschen anfangen, das System zu hinterfragen, umso mehr nimmt die staatliche Gewalt gegen sie zu. Presseinformationen zufolge wurden allein in den USA im letzten Jahr 1099 Menschen von Sicherheitskräften getötet.  

Während die Bereiche des selbstbestimmten Lebens immer stärker eingeschränkt werden, nimmt die Hegemonie des Staates in allen Bereichen zu. Heute beanspruchen die Staaten das Monopol auf Gewalt für sich, während legitime Selbstverteidigung als Terrorismus abgestempelt wird.  

Der Nationalstaat als Stützpfeiler des Kapitalismus hat zum einen dazu beigetragen, dass unterschiedliche lokale und kulturelle Identitäten und Gesellschaftsgruppen innerhalb einer Staatsgrenze homogenisiert wurden. Zum anderen wurden Volksgruppen durch Nationalismus gegeneinander aufgehetzt und verfeindet. Welches unmenschliche und zerstörerische Ausmaß Nationalismus haben kann, musste die Menschheit in den beiden Weltkriegen erleben.  

Nach dem 1. Weltkrieg wurde zum Beispiel Kurdistan auf vier Nationalstaaten aufgeteilt, ohne unsere Rechte und unsere Existenz zu garantieren. Unsere Identität wurde verleugnet, alles Kurdische wurde für rückständig erklärt. Wir wurden einer Assimilationspolitik ausgesetzt, die aus uns Türk*innen, Araber*innen oder Perser*innen machen sollte. Die Nationalstaaten benötigen eine homogene ethnische Identität und setzen das mit Zwang durch.

Unterdrückung, Macht und Herrschaft sind nichts Natürliches. Somit ist auch der Staat nichts Natürliches, sondern ein Machtinstrument der Herrschenden. Er ist ein Produkt der Menschen und hat seinen Ursprung in der Unterwerfung der Frauen. Die erste unterdrückte Nation, erste unterdrückte Klasse stellen historisch gesehen Frauen dar. Daher verwundert es nicht, dass trotz unzähliger (sowohl antikolonial-nationaler als auch klassenbezogener) Kämpfe für Freiheit und Gleichberechtigung diese Unterdrückungssysteme nicht überwunden werden konnten. Da bislang keine revolutionäre Bewegung die Frauenbefreiung ins Zentrum ihres Kampfes gerückt hat, konnten sie das Unterdrückungssystem nicht im Kern angreifen.

Heute wissen wir, dass ohne die Beendigung des gesellschaftlichen Sexismus der Sumpf von Hierarchie, Macht und Unterdrückung nicht auszutrocknen ist. Es ist kein Zufall, dass die Angriffe gegen Frauen parallel zum Erstarken von Nationalismus und Unterdrückung weltweit explosionsartig angestiegen sind.

Während weltweit rassistisch motivierte Angriffe zunehmen und der Rechtsruck von politischen Systemen  vonstattengeht, werden patriarchales Verhalten von Staaten und Personen umso ungenierter an den Tag gelegt. Staatsoberhäupter drohen Frauen mit Vergewaltigung und Mord, beschneiden mühsam erkämpfte Rechte von Frauen und versuchen, Frauen aus dem öffentlichen Leben heraus zu drängen.

Es ist an der Zeit, diesem Unterdrückungssystem in seinem ganzen Umfang den Kampf anzusagen. Das heißt, wir müssen den Kampf gegen White Supremacy, Nationalismus, Sexismus und Kapitalismus als einen einheitlichen Kampf verstehen und führen. Wir müssen uns für ein alternatives System einsetzen, welches Unterschiedlichkeiten nicht abwertet, sondern Vielfalt als Reichtum sieht. Statt der Homogenisierung von Identitäten müssen wir uns für den Zusammenhalt der Vielfalt einsetzen.

Wenn wir nicht wollen, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer ethnischen und religiösen Identität als minderwertig betrachtet und behandelt werden, müssen wir entschlossen gegen Nationalismus, Sexismus und Kapitalismus ankämpfen und unsere Kämpfe vereinen.

Wir müssen durch demokratische Strukturen der Selbstorganisierung unser selbstbestimmtes Leben jenseits von Staat, Macht und Hierarchie aufbauen.