Die Kerkûk-Frage ist das Steckenpferd der türkische Faschismus. Über die turkmenische Minderheit versuchen türkische Faschisten der MHP schon seit Jahrzehnten, mit der Kerkûk-Frage Politik zu machen. Die Koalition aus AKP und MHP hat die Kerkûk-Frage ganz oben auf die imperiale Wunschliste des Neoosmanismus gesetzt und unternimmt praktische Schritte, um die besetzten Gebiete bis Kerkûk auszudehnen.
Dabei spielt auch die Kerkûker Innenpolitik eine wichtige Rolle. Kerkûk wird von der südkurdischen Patriotischen Partei Kurdistans (YNK) regiert. Aktuell besteht die Gefahr, dass die kurdische Seite das Gouverneursamt in Kerkûk verliert. Kerkûk war nach der Befreiung und Verteidigung gegen den IS durch Guerillakämpfer:innen der HPG (Volksverteidigungskräfte) und YJA Star (Verbände freier Frauen) an der Seite kurdischer Peschmerga de facto Teil von Südkurdistan. Nach einem von der PDK initiierten „Unabhängigkeitsreferendum“ wurde Kerkûk von den Peschmerga im Oktober 2017 der irakischen Regierung bzw. den Iran-treuen Volksmobilisierungseinheiten übergeben. Analyst:innen vermuteten damals bereits ein Abkommen zwischen der PDK und der Türkei hinter diesem Vorgehen. Aber nicht nur die Türkei mischt mit.
Neun Milliarden Barrel Öl für British Petroleum
Erst am Donnerstag vergangener Woche hatte das Büro des irakischen Premierministers mitgeteilt, dass ein Vorabkommen über die Erschließung der Öl- und Gasfelder im Norden von Kerkûk mit dem britischen Ölkonzern BP unterzeichnet worden sei. Nach Schätzungen von BP enthält Kerkûk etwa neun Milliarden Barrel förderbares Öl. Damit hat Großbritannien nach hundert Jahren einen Weg gefunden, Zugriff auf die Ausbeutung der reichen Ölvorkommen der Region zu erhalten. Die Ausbeutung der Ölvorkommen durch BP war schon 2014 ins Auge gefasst worden, das Projekt wurde jedoch eingefroren. Das Referendum und der Einzug der irakischen Truppen haben BP den Weg freigemacht, die Ölvorkommen ausbeuten zu können. Die US-Regierung hat bereits Truppen zum Schutz der strategischen Ressource entsandt. Die Verhandlungen über ein abschließendes Abkommen können sich noch weiter hinziehen.
Die Türkei und die turkmenische Karte
Der türkische Staat spielt mit seinem ethnischen Nationalismus bis weit in den Mittleren Osten hinein die imperiale Karte. In der Kerkûk-Region nutzt er die Irakische Turkmenenfront (ITC) für ihre Interessen. Dabei setzt er auf den Söldnerkonzern SADAT, um die paramilitärischen Einheiten der ITC auszubilden. SADAT übernahm diese Aufgabe, nachdem der türkische Geheimdienst mit Waffenlieferungen an die ITC 2014 aufgeflogen war. So kommt nicht von ungefähr, dass der Generalverantwortliche der ITC, Hasan Turan, ein Vertreter des Söldnerkonzerns ist. Neben Turan sind auch Namen wie Erşad Salihi und Saddetin Ergeç, der frühere Generalverantwortliche, im Namen von SADAT dort tätig. Die Aktivitäten im Irak im Allgemeinen und in Kerkûk im Besonderen werden von dem Think Tank ASSAM und dem SADAT beigeordneten Verein ASDER für entlassene Armeeoffiziere in Ankara organisiert. ASDER ist der privatmilitärische Kern des AKP/MHP-Regimes und gilt unter anderem als mitverantwortlich für die „Säuberung“ der Armee nach dem gescheiterten „Putschversuch“ von 2016. Ali Coşar, der Vizepräsident der SADAT, ist für die Koordinierungsregion Irak/Kerkûk verantwortlich.
Paramilitärische Truppen für die Türkei
Dem türkischen Staat geht es darum, durch den MIT und SADAT eine Armee in Kerkûk aufzubauen. Einer dieser Versuche war der Aufbau von turkmenischen Brigaden. Sie agieren mittlerweile unter dem Dach der Volksmobilisierungseinheiten (Hashd al-Shabi), da das Engagement der Türkei hier den Iran auf den Plan gerufen hatte. Die Türkei hatte die Turkmenen als Hashd al-Watani organisiert und im Militärstützpunkt Bashiqa in Mosul ausgebildet und ausgerüstet. Sie wurden 2017 den Hashd al-Shaabi angegliedert. Auch wenn sie nun zu diesem vom Iran dominierten Milizbündnis gehören, ändert dies nichts an ihren eigentlichen Interessen.
Entwicklung nach offizieller Auflösung der ITC-Brigaden
Am Freitag, dem 26. Juli 2024, kündigte Hashd al-Shaabi die Auflösung des Nordkommandos an. Dieses Kommando war von den turkmenischen Brigaden dominiert. Unmittelbar nach der Entscheidung gab es Reaktionen von verschiedenen Seiten, insbesondere vom schiitischen Religionsführer al-Sistani. Dabei ging es offensichtlich vor allem darum, der Türkei zu vermitteln, man habe mit der Angelegenheit nichts zu tun. Andererseits will die irakische Regierung der politischen Legitimation für die Verlegung türkischer Truppen tief in den Irak hinein unter dem Vorwand des „Schutzes der Turkmenen“ den Boden entziehen, indem sie behauptet, dass alle politischen Dynamiken und Komponenten des Irak in Hashd al-Shaabi vereint seien. Dies ist offensichtlich ein Versuch der Prävention gegenüber Ankaras neoosmanischen Ambitionen.
In Reaktion auf diese Politik des Iraks begann der türkische Staat eine neue turkmenische Truppe in Kerkûk zu rekrutieren und ließ diese in Çemçemal, aber auch an vielen anderen Orten angreifen. Daher wurden Sanktionen gegen eben diese Gruppe verhängt. Die turkmenischen Brigaden, die Basen im Westen von Kerkûk und im ländlichen Raum besitzen, wurden von den Parteien als Gefahr betrachtet. Es wird auch erwartet, dass die Türkei neue Initiativen in Bezug auf diese von der irakischen Zentralregierung finanzierte Truppe ergreifen wird. Insbesondere, da diese mit Hashd al-Shaabi verbunden ist.
Mögliche Perspektiven aufgrund der Diskussionen ums Gouverneursamt
Die Frist für die Wahl eines Gouverneurs von Kerkûk läuft am 11. August ab. Innerhalb dieses Zeitraums müssen sich die Parteien auf einen Kandidaten einigen. Dieser Prozess macht drei Alternativen möglich: Die erste Option ist die Ernennung eines Gouverneurs, der von der YNK und der irakischen Regierung gebilligt und vom Premierminister beauftragt wird; in der Diskussion sind unter anderem die Namen des derzeitigen irakischen Justizministers Xalid Shiwanî und Neşet Shahwêz Xurşîd. Die zweite Option wäre die Annullierung der Wahlen, während die dritte Möglichkeit, wenn auch unwahrscheinlich, die Wahl eines schiitischen Gouverneurs anstelle eines kurdischen Gouverneurs wäre, da die PDK, die sunnitischen Kräfte und das turkmenische Bündnis auf ihrer Politik beharren.
Iran, USA und Großbritannien mischen mit
Währenddessen verfolgen die USA und Großbritannien eine an der Ausbeutung der Ölvorkommen orientierte Politik. Der Ölexport soll nun nicht mehr über die PDK, sondern über die irakische Regierung abgewickelt werden.
Die irakische Regierung steht jedoch auch unter dem massiven Einfluss des Iran und so scheint es wahrscheinlich, dass iranische Diplomatie auch bei den Ölabkommen über Kerkûk im Hintergrund eine entscheidende Rolle spielen wird. Die Tatsache, dass der irakische Ölminister Hayan Abdulghani Mitglied einer Fraktion ist, die bekanntermaßen Teheran nahesteht und deren Vorsitz Nouri al-Maliki innehat, ist ein weiteres Indiz für eine wahrscheinliche Einflussnahme durch den Iran.