Seit dem 25. März 2021 gibt es kein Lebenszeichen mehr von der Gefängnisinsel Imrali. Es besteht große Sorge um die Situation des kurdischen Repräsentanten und Vordenkers Abdullah Öcalan. Bereits seit dem 7. August 2019 hat Öcalan keinen Anwaltsbesuch mehr erhalten. Der Abgeordnete der Grünen Linkspartei (YSP), Serhat Eren, äußerte sich in einem Hintergrundgespräch über die aktuelle Lage und sprach von einer Entwicklung von der Isolation zur Totalisolation Öcalans seit dem 7. August 2019: „Die Isolation von Herrn Abdullah Öcalan dauert nun schon mehr als 24 Jahre an. In den vorangegangenen Jahren wurden ihm seine Rechte unter verschiedenen Vorwänden verweigert. So wurde jegliche Kommunikation mit Abdullah Öcalan unter dem Vorwand unterbunden, dass die Fähre außer Betrieb sei oder ähnlich triviale Gründe vorlägen. Aber seit 2019 ist nichts mehr von ihm zu hören. Obwohl die Anwaltskanzlei Asrin, die ihn vertritt, im Namen seiner Familie und seines Bevollmächtigten bis heute Zehn-, ja vielleicht sogar Hunderttausende von Anträgen gestellt hat, haben sowohl die AKP als auch der Staat und das Justizministerium bis heute leider nicht auf diese gerechten und legalen Forderungen reagiert."
„Wir haben ein Jahrhundert erlebt, in dem nichts Kurdisches toleriert wurde“
Eren erinnerte an den „Niederwerfungsplan“, der bereits während des Verhandlungsprozesses von Seiten des türkischen Staates entwickelt wurde und 2015 schließlich zum Abbruch dieses Prozesses durch den Staat führte. Im Rahmen dieses Plans sei die Isolation Öcalans immer weiter verschärft worden. Der Abgeordnete fuhr fort: „Lange Zeit, insbesondere zwischen 2013 und 2015, hat die Regierung selbst Gespräche mit Abdullah Öcalan geführt, um eine Lösung der kurdischen Frage mit demokratischen Mitteln zu finden. Diese Gespräche dauerten sehr lange. Nach dem Scheitern dieser Gespräche, d.h. nachdem die AKP den ‚Lösungsprozess‘ beendet und den Verhandlungstisch umgeworfen hatte, begann eine ganz neue Phase. Sowohl bei der Gestaltung der türkischen Politik als auch bei der Umsetzung dieser Politik gegenüber dem kurdischen Volk spielten viele verschiedene Parameter eine Rolle. Einerseits haben wir ein Jahrhundert hinter uns, in dem die Sprache, die Geschichte und die Kultur der Kurdinnen und Kurden nicht toleriert wurden, und andererseits war dieses Jahrhundert extrem blutig, ein Jahrhundert großer Völkermorde, d.h. ein Jahrhundert, in dem Aufstände, die sich für eine Lösung der kurdischen Frage einsetzten, sehr blutig niedergeschlagen wurden. Im folgenden Jahrhundert soll den Kurdinnen und Kurden der Weg zu einer demokratischen Republik versperrt werden, und statt einer demokratischen Republik soll ein weiteres von der gleichen rassistischen, faschistischen, konservativen Soße durchdrungenes Jahrhundert gestaltet werden. Daher kann ich sagen, dass der Niederwerfungsplan in direktem Zusammenhang mit der Gestaltung des zweiten Jahrhunderts der Türkei steht.“
„Die HDP ist die Verkörperung einer Idee Öcalans“
Eren beschrieb den ab 2015 einsetzenden Niederwerfungsplan, dessen Kernstück die Angriffe auf Öcalan durch eine Verschärfung der Isolationsfolter gewesen seien. Er führte weiter aus: „Mit diesem System der Isolation und Folter ist die kurdische Frage weit jenseits einer demokratischen Lösung. Gleichzeitig beinhaltete der Niederwerfungsplan das Folgende: Im Zeitraum 2013 bis 2015, also während der Zeit, in der die Verhandlungen geführt wurden, hatte Abdullah Öcalan Wege und Methoden zur Lösung der Probleme in der Türkei vorgeschlagen. Er hatte eine Idee. Diese Idee wurde gewissermaßen von der HDP verkörpert, und bei den Wahlen 2015 war diese Idee, die alle marginalisierten, nicht akzeptierten und unterdrückten Gruppen in der Türkei, die Werktätigen, Kurden, Armenier und Suryoye zusammenbrachte, bei den Wahlen erfolgreich. Daraus wurde geschlossen, dass die Idee der HDP ‚gefährlich‘ für den Staat sei. Nach den Wahlen begann also ein sehr intensiver Angriff auf die HDP.“
„Isolation dient dem Schutz des AKP/MHP-Regimes“
Der Abgeordnete sieht in Öcalans demokratischen Ansätzen einen weiteren Grund für die Isolation: „Wenn die Isolation von Herrn Abdullah Öcalan beendet wird und Gespräche stattfinden, werden seine Ideen zur Lösung aller sozialen Fragen in der Türkei auf die Gesellschaft treffen und eine erleichternde Rolle bei der Lösung vieler Probleme spielen. Aber die AKP ist dagegen. Ich meine, einerseits versucht Abdullah Öcalan, alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen, er bietet einen Weg an, er sagt: ‚Ich habe die Kraft, dieses hundert Jahre alte Problem in dieser Gesellschaft innerhalb von zehn Tagen zu beenden‘. Die Tatsache, dass er eine solche Kraft hat und dass er der Ansprechpartner ist, wurde von der Gesellschaft und dem Staat sehr wohl im Rahmen des Lösungsprozesses erkannt. Deshalb beharrt Abdullah Öcalan seit 2015 auf diesen Ideen und hat sogar ein Modell vorgelegt. Er beharrt auf seiner Haltung zur Lösung der grundlegenden Probleme und er leistet Widerstand. Weil er Widerstand leistet, verschärft der AKP/MHP-Faschismus die Isolation von Abdullah Öcalan so weit wie möglich. Auf der einen Seite gibt es die Realität von Abdullah Öcalan, der sich wehrt, der nicht bereit ist, diese Prinzipien, diese Ideen aufzugeben, der kämpft und der sich bewusst ist, dass dieser Widerstand eine gesellschaftliche Frage ist. Auf der anderen Seite gibt es die Realität des AKP/MHP-Faschismus, der versucht, seinen Willen zu brechen, indem er ihn abschottet, jegliche Kommunikation verhindert und ihn in die Isolation zwingt.
Gespräche mit Abdullah Öcalan würden es ermöglichen, einen anderen Prozess in Gang zu setzen. Aber das Entstehen eines solchen Prozesses bedeutet die Auflösung des AKP/MHP-Regimes. Es besteht also ein gegenteiliges Verhältnis zwischen ihnen. Mit anderen Worten: Wenn Gespräche mit Abdullah Öcalan stattfinden, wird er seine Lösungsvorschläge präsentieren, und ich bin sicher, dass diese Lösungsvorschläge die Gesellschaft in der Türkei überzeugen können. Ich denke, dass die Gesellschaft in der Türkei von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt ist und weiß, dass alle Mittel, die in den Krieg investiert wurden, nur zu Armut und Elend der Menschen geführt haben. Seit dem Beginn der Isolation von Abdullah Öcalan hat die Türkei eine Kriegspolitik verfolgt. Sie hat einen chaotischen Prozess in Gang gesetzt, der Krieg und Kriegspolitik in den Vordergrund stellt. Was ist seit Beginn dieses Prozesses mit den Menschen in der Türkei geschehen? Tod und Tränen sind über das türkische Volk gekommen. Gleichzeitig hat die Kriegspolitik auch die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Türkei getroffen, die Bevölkerung ist von großer Armut und einer große Wirtschaftskrise betroffen.“
„Widerstand gegen die Isolation ist eine historische Mission“
Eren betonte, dass der Widerstand gegen die Isolation auf Imrali auch ein Widerstand gegen die Kriegspolitik, den Hunger, die Armut und die Wirtschaftskrise bedeute. Der Widerstand gegen die Isolation sei eine Manifestation der Forderung nach Recht und Gerechtigkeit. Abschließend machte Eren deutlich, dass auch Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen in der Türkei und die für die Einhaltung internationaler Konventionen zuständigen Stellen ihren Anteil an der Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan haben und dass sich diesem Unrecht nicht zu widersetzen eine Unterstützung des AKP/Faschismus bedeute. Serhat Eren schloss mit den Worten: „Einerseits rühmen sich der Europarat und das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) ihrer Werte und des universellen Rechts, andererseits schweigen sie zu diesen rechtswidrigen Handlungen in der Türkei. Ich meine, unabhängig von der Tatsache, dass Abdullah Öcalan die Person ist, deren Rechte verletzt werden, haben sie eine historische Mission, eine historische Pflicht, sich dem entgegenzustellen, egal was passiert. Wenn sie das tun, kann ich sagen, dass sehr starke, sehr große Schritte bei der Schaffung und Verwirklichung von Frieden, Freiheit, Demokratie, Recht und Gerechtigkeit in der Türkei unternommen werden und für viele weitere Dinge der Weg geebnet werde.“