Bei einer Demonstration gegen einen Angriff von Peschmerga-Truppen auf Stellungen der PKK-Guerilla in Südkurdistan sind in der westtürkischen Metropole Istanbul mehr als zwanzig Personen am Sonntag festgenommen worden. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor und begründete ihr Einschreiten nicht. Ein Beteiligter, der angab, an einer schweren Herzerkrankung zu leiden, wurde mit Fäusten gegen den Kopf traktiert. Unter den Festgenommenen befinden sich mehrere Akteurinnen der Zivilgesellschaft und Vertreter politischer Parteien.
Die Demonstration unter dem Motto „Wir akzeptieren keinen Verrat – Wir verteidigen unsere Errungenschaften“ wurde von einem Bündnis veranstaltet und richtete sich gegen den Angriff vom Donnerstag von Truppen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) gegen Stellungen der Volksverteidigungskräfte (HPG) sowie Verbände freier Frauen (YJA Star) in Gewriya Zînê – einem Gebiet in der nordöstlich von Hewlêr (Erbil) liegenden Gemeinde Sîdekan, das für die Guerilla von strategischer Bedeutung ist. Nach dem grundlosen Angriff war es zu Gefechten zwischen beiden Seiten gekommen, die Lage blieb bis zuletzt angespannt.
Keine Neuauflage des kurdischen Brudermords
Die kurdische Gesellschaft befürchtet, dass die mit der türkischen Staatsführung in Ankara kooperierende PDK durch Provokationen wie in Gewriya Zînê eine Neuauflage des Birakujî („Brudermord“) herbeiführen will. Um die PDK zur Zurückhaltung zu mahnen, riefen die in Nordkurdistan aktive Frauenbewegung Tevgera Jinên Azad (TJA) gemeinsam mit dem Rat der Friedensmütter, der Partei der demokratischen Regionen (DBP), dem Solidaritätsverein für Familien aus Zentralanatolien, die Angehörige im kurdischen Befreiungskampf verloren haben (ANYAKAY-DER) und der Gefangenenhilfsorganisation MATUHAY-DER zu der Demonstration in Istanbul auf. Der Demokratische Kongress der Völker (HDK), ein Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem 2012 die Partei HDP hervorgegangen ist, unterstützte den Protest.
Die Menschenmenge, die sich in Begleitung der HDK-Sprecher:innen Esengül Demir und Cengiz Çiçek von der HDP-Zentrale im zentrumsnahen Viertel Tarlabaşı kommend in Richtung Tünel (Station der historischen Standseilbahn) bewegte, um zum Taksim-Platz zu ziehen, erreichte ihr Ziel jedoch nicht. Die Polizei nahm die Demonstrierenden, die immer wieder lautstark „Es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker“, „Nieder mit Verrat“ und „Keine Neuauflage des Brudermords“ skandierten, auf der Einkaufsmeile Istiklal in einen Kessel. Cengiz Çiçek, der neben seiner Tätigkeit für den HDK als Abgeordneter der Grünen Linkspartei (YSP) im türkischen Parlament sitzt, verurteilte das polizeiliche Vorgehen. Er beschrieb die Situation als Ausdruck der von Krieg und Gewalt angetriebenen Politik der Herrschenden.
Für Frieden kämpfen – den blutrünstigen Kriegstreibern zum Trotz
„Das kurdische Volk hat den Punkt, an dem es heute steht, nicht ohne weiteres erreicht. Das sollte nicht vergessen werden. Es hat Jahrzehnte des Kampfes und des Widerstandes hinter sich“, betonte Çiçek in seiner Ansprache. „Schauen Sie, hier zeigt sich wieder einmal ein Bild des Faschismus. Unser Volk wird auch jetzt in diesem Moment wieder angegriffen. Menschen, die auf nationale Einheit und Geschwisterlichkeit pochen, werden mit Schlagstöcken traktiert. Dies ist sowohl ein Abbild des Faschismus als auch ein Spiegelbild jener, die den Krieg wollen. Wir dagegen wollen Frieden und werden ihn auch gewinnen – den blutrünstigen Kriegstreibern zum Trotz.“
Unmittelbar nach der Rede von Çiçek löste die Polizei die Demonstration auf. Mindestens einundzwanzig Personen wurden unter dem Einsatz von Gewalt abgeführt, die Namen von fünfzehn von ihnen sind bekannt. Unter ihnen befinden sich auch Evin Genç, die Ko-Vorsitzende von ANYAKAY-DER ist, die HDK-Sprecherin Esengül Demir sowie Murat Kamaz, Ko-Vorsitzender des Provinzverbands der HDP in Istanbul. Sie alle erwartet eine Anzeige wegen einem vermeintlichen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Aus Anwaltskreisen hieß es, dass Ermittlungsverfahren wegen sogenannter Terrorvorwürfe ebenfalls im Raum stünden.
Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer in Silopiya
In Silopiya in der nordkurdischen Provinz Şirnex (tr. Şırnak) waren türkische Polizei und das Militär bereits gestern gegen Gegner:innen eines innerkurdischen Konflikts vorgegangen. Die Beteiligten der ebenfalls von einem Bündnis getragenen Protestveranstaltung waren mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen attackiert worden. Zahlreiche Menschen mussten in ein Krankenhaus eingeliefert werden, darunter der YSP-Abgeordnete Keskin Bayındır, der auch Ko-Vorsitzender der DBP ist.