„In einem Rechtstaat würde ich freigesprochen“

Jahrelang war Zülküf Karatekin Bezirksbürgermeister von Payas in Amed. Jetzt musste er nach Österreich flüchten – und sitzt im Flüchtlingslager Fieberbrunn in Tirol fest. Der Journalist Michael Bonvalot hat mit dem Exilpolitiker gesprochen.

Lange Jahre war Zülküf Karatekin Bezirksbürgermeister in der Millionenmetropole Amed (türk.: Diyarbakır). Als die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) aus den Kommunalwahlen im April 2009 als Siegerin in den kurdischen Gebieten hervorging, begann eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen kurdische Politiker*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen: die sogenannte KCK-Operation. Zülküf Karatekin war einer von tausenden Betroffenen, die im Gefängnis landeten und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. Inzwischen musste er nach Österreich flüchten – und sitzt im Flüchtlingslager Fieberbrunn in Tirol fest. Der Journalist Michael Bonvalot hat ein ausführliches Gespräch mit Karatekin geführt. Wir veröffentlichen es in leicht überarbeiteter Form.

Sie waren für die linke und pro-kurdische Bewegung Bezirksbürgermeister in Diyarbakır. Nun mussten Sie nach Österreich flüchten und haben einen Asylantrag gestellt. Warum?

Ich war zehn Jahre Bezirksbürgermeister von Kayapınar (kurdisch: Payas, ANF), Direktor der Stadtverwaltung von Diyarbakır und zuletzt auch in der zentralen Wahlkommission der HDP tätig. Schon während meiner zweiten Amtszeit wurde ich zu neun Jahren Haft verurteilt, saß über vier Jahre in Diyarbakır im Gefängnis und wurde vorzeitig entlassen. Im letzten Jahr bestätigte das höchste Gericht allerdings meine Haftstrafe, somit stand ich vor einer Wahl: Entweder würde ich meine restliche Haftstrafe antreten, welche sich eventuell noch verlängern könnte, da noch weitere Verfahren gegen mich eröffnet wurden. Oder ich würde ins Ausland flüchten müssen.

Nachdem ich diese Situation mit meinen Rechtsanwälten, meiner Familie und Freunden besprochen hatte, entschied ich mich, ins Exil zu gehen. Spätestens am 20. November 2020 hat sich meine Entscheidung als richtig erwiesen. An diesem Tag wurde die Wohnung meiner Familie in Diyarbakır wegen eines neuen Verfahrens gestürmt. Angesichts dessen war es die richtige Entscheidung, nach Österreich zu kommen. Nun habe ich einen Asylantrag gestellt.

Sie sind insgesamt vier der fünf Jahre ihrer zweiten Amtszeit im Gefängnis gesessen und wurden 2014 entlassen. Was ist damals passiert?

Während meiner zweiten Amtszeit als Bürgermeister wurde ich 2009 im Rahmen des sogenannten KCK-Verfahrens festgenommen. In diesem Verfahren wurden 152 Menschen in Diyarbakır, darunter gewählte Bürgermeister*innen und Vorsitzende der Ortsverbände der BDP und DTP – also der Vorgänger der HDP – verhaftet. Insgesamt wurden in den folgenden zwei Jahren mehr als 7.500 Menschen wegen vermeintlicher „Mitgliedschaft in der KCK“ in Untersuchungshaft gesteckt.

Dies verdeutlicht nochmals, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist. Seit 1999 gewinnt die kurdische Bewegung die Rathäuser beziehungsweise Gemeinden in ihren Provinzen. Die AKP-Regierung ist seitdem bemüht, die Wahlergebnisse und somit den Willen des Volkes nicht anzuerkennen. Die Verhaftungen von gewählten kurdischen Politiker*innen sind ein politischer Putsch gegen die demokratischen Werte. Das Ziel der AKP ist es, die Bevölkerung einzuschüchtern.

Der türkische Staat setzt regelmäßig kurdische Bürgermeister*innen ab und steckt sie ins Gefängnis. Insgesamt sitzen tausende Mitglieder der HDP und andere Linke in den Gefängnissen. Wie ist die aktuelle Lage?

2014 gab es Kommunalwahlen in der Türkei, die AKP-Regierung hatte sich die Wahlergebnisse anders vorgestellt. Die HDP schaffte es damals, 102 Bezirksbürgermeister*innen zu stellen und hatte nun mehr Rathäuser/Gemeinden gewonnen. Die Bevölkerung hat trotz aller Repression weiterhin die HDP unterstützt, sogar stärker als zuvor. Die AKP-Regierung konnte die Wahlerfolge der HDP nicht akzeptieren und startete Ende 2016 einen erneuten Angriff auf die gewählten Vertreter*innen.

Bürgermeister*innen, gewählte Abgeordnete und sogar die Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, wurden verhaftet. Bürgermeister*innen wurden abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Diese Politik ist ein großer Schlag gegen den Willen des Volkes, die Demokratie und das Wahlrecht insgesamt.

Auch nach den Kommunalwahlen im Jahr 2019 wurde diese Politik fortgeführt. Keine vier Monate nach den Wahlen wurden wieder gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt. Obwohl die HDP in 65 Gemeinden gewonnen hat, stellt sie nur noch in fünf dieser Gemeinden die Bürgermeister*innen. Alle anderen wurden durch Zwangsverwalter der türkischen Regierungspartei AKP ersetzt. Die AKP/MHP-Regierung unter Präsident Erdogan erlaubt nicht die kleinste Kritik an ihrer Politik. Von fairen Prozessen und Gerichtsurteilen sowie freier Presse ist seit Längerem keine Rede mehr.

Die Angriffe auf die linke Bewegung in der Türkei stehen ja in einem größeren Rahmen. Die rechte Regierung der Türkei versucht offenbar, großosmanische Träume zu verwirklichen.

Die AKP stellt seit 2002 die Regierung. In dieser Zeit hat sie es geschafft, alle Staatsapparate und Gremien unter ihre Kontrolle zu bringen und diese mit ihren nach der Ideologie der türkisch-islamischen Synthese geschulten Kadern zu besetzen. Zuletzt bekommt sie auch die Unterstützung von der nationalistischen MHP (sogenannte „Graue Wölfe“, MB). Die AKP hat sich schon längst von den „Demokratisierungsversprechen” verabschiedet, die sie in der ersten Phase ihrer Regierungszeit zugesagt hatte. Sie ist zu einem autoritären Regime geworden. Autoritäre und faschistische Regime brauchen Kriege, Chaos und Krisen, um zu überleben.

Die AKP-Regierung schafft „Feinde” im „Inneren” sowie in der „Außenpolitik” und steigert somit auch den Nationalismus im Volke. Damit versucht sie, ihre neo-osmanischen Träume zu verwirklichen und verfolgt die Politik der Besetzung seit Jahren. Jede Kritik an diesen neo-osmanischen Träumen wird verfolgt, man wird als „Landesverräter” abgestempelt. Da sie nun die Presse und die Gerichte unter Kontrolle haben, werden auch die Kritiker*innen zu hohen Strafen verurteilt. Um ihre neo-osmanischen Träume in der Außenpolitik durchzusetzen, brauchen sie auch die militärische Besetzung.

Kurdistan steht ganz vorne in den besetzten Gebieten. Sie sehen jede Entwicklung und Rechte, die den Kurdinnen und Kurden in der Region zustehen, als eine Gefahr für ihre Ziele und versuchen diese von Anfang an zu bekämpfen. So hatte die AKP/MHP-Regierung auch kein Problem damit, den Islamischen Staat (IS) gegen die Kurd*innen in Syrien und vor allem in Nordsyrien (Rojava) zu unterstützen.

Als der IS nun mit westlicher Unterstützung gegen die Kurd*innen verloren hatte, ist die türkische Armee in Syrien einmarschiert und hat bestimmte Gebiete wie Afrin militärisch besetzt. Sie schafft es aber, auch die Kurd*innen gegeneinander auszuspielen, wie etwa im Falle der KDP (Partiya Demokrata Kurdistanê, PDKin Südkurdistan (Nordirak). Die KDP versucht, mit türkischer Unterstützung an der Macht zu bleiben. Die Türkei erlaubt sich, in diesen Gebieten Provokationen auszuüben und sie militärisch zu besetzen, weil diese Gebiete „osmanischer Boden” seien (Die rechte kurdische KDP ist Regierungspartei im Nordirak und mit der Türkei verbündet. Die Türkei hat in KDP-kontrollierten Gebieten Truppen stationiert, MB).

Zuletzt hat die Türkei auch Aserbaidschan mit allen Mitteln unterstützt und wurde zum Hauptakteur im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es ist der Versuch, die eigene politische Macht in den Turkstaaten zu erweitern. Auch hier behauptet die Türkei, dass es osmanischer Boden wäre und sie Anspruch darauf hätte. Somit verstößt die Türkei gegen internationales Recht. Wenn die internationalen Staaten auf diese neo-osmanische Politik nicht wirklich reagieren und Sanktionen verhängen, wird die Türkei weitere Besetzungsmöglichkeiten und Angriffskriege führen (Turkstaaten sind neben der Türkei und Aserbaidschan auch Kasachstan, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan. Ungarn hat seit 2018 Beobachterstatus im „Türkischen Rat“, wo außer Turkmenistan alle Turkstaaten Mitglied sind, MB).

Bei den letzten Wahlgängen konnte sich die Koalition von AKP und Grauen Wölfen unter Präsident Erdoğan nur noch mit offensichtlichem Wahlbetrug halten. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche Lage schwierig, die türkische Lira verliert immer mehr an Wert, dazu die Corona-Krise. Wie sehen Sie die Entwicklung und wie lange wird sich Erdoğan noch an der Macht halten können?

Die Kriegspolitik der AKP/MHP-Regierung mit den Nachbarstaaten schadet der türkischen Wirtschaft. Zum einen sind die Ausgaben für die Kriegspolitik sehr hoch, zum anderen halten sich ausländische Investoren aufgrund dieser neo-osmanischen Kriegspolitik zurück. Die türkische Wirtschaft ist aber sehr stark vom Ausland abhängig.

Ein Teil des türkischen Kapitals sieht die ganze Sache mit Skepsis und hat sich bereits zurückgezogen. Das hat natürlich negative Auswirkung auf die gesamte Wirtschaft, somit verschärft sich die Krise. Dazu kommt die aktuelle Corona-Pandemie, die die Wirtschaft nochmals schwächt. Investitionen wurden gestoppt, die Produktion wurde zurückgefahren, die Kaufkraft ist stark gesunken. Die Türkei war schon länger nicht mehr in so einer schwierigen Wirtschaftssituation.

Die AKP/MHP-Regierung versucht mit nationalistischer Rhetorik und Propaganda an der Macht zu bleiben. Vielleicht schafft sie das auch kurzfristig. Aber langfristig wird die Unzufriedenheit in der Gesellschaft mit diesen ökonomischen Bedingungen steigen. Das wissen sie auch. Die Regierung hat dabei Glück, dass es in der Türkei keine „wirkliche” Opposition gibt außer der HDP.

Die anderen Oppositionsparteien wie die CHP oder İYİ-Partei unterstützen in außenpolitischen Fragen meist die türkische Kriegspolitik (Die nationalistisch-„kemalistische“ CHP ist Mitglied der Sozialistischen Internationale, İYİ-Partei ist eine Abspaltung der faschistischen MHP. Die beiden Parteien bilden einen gemeinsamen Oppositionsblock und treten gemeinsam zu Wahlen an, MB). Falls die Oppositionsparteien wirklich ein Bündnis mit demokratischen Werten eingehen sollten und es der Gesellschaft auch glaubwürdig vermitteln können, wird die AKP bei der nächsten Wahl nicht mehr an der Macht sein.

Sie sitzen jetzt in einem Flüchtlingslager in Fieberbrunn in Tirol fest. Wie sind die Bedingungen für Sie?

In bin derzeit in einer Flüchtlingseinrichtung, die sehr isoliert ist von der Außenwelt. Die sozialen Kontakte fehlen uns. Das macht die Situation nicht gerade einfacher. Es hat wirkliche Folgen auf die Psyche eines Menschen. In dieser Einrichtung leben ca. 50 Menschen aus verschiedenen Kulturen und Ländern mit unterschiedlichen Hintergründen.

Es ist sehr schwierig für mich, weil ich meine Heimatstadt Amed nicht verlassen wollte. Ich musste meine Heimat verlassen. Die Stadt, wo ich aufgewachsen bin, gelebt habe und mich um die Probleme der Stadt und der Menschen gekümmert habe. Nun bin ich weit weg von meiner Familie und meinen Freund*innen. Dies ist sehr schwierig.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir natürlich, dass mein Asylverfahren schnell verläuft und ich mich schnell an das Leben in Österreich gewöhnen und integrieren kann. Es beschäftigt mich gerade sehr. Langfristig hoffe ich natürlich, dass die dunkle Zeit in der Türkei unter dem autoritären Präsidenten Erdoğan bald vorbei ist und meine Verfahren in einem demokratischen Prozess noch aufgerollt werden.

In einem Rechtstaat würde ich freigesprochen, da ich mir nichts zu Schulden habe kommen lassen. Ich wünsche mir einen Demokratisierungsprozess in der Türkei. Dann könnte ich wieder in meine Heimat zurückkehren.


*Michael Bonvalot ist freier Journalist, Autor und Vortragender aus Wien. Seine Schwerpunkte sind Sozialpolitik, soziale Bewegungen sowie die exteme Rechte. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Medien in Österreich und Deutschland sowie auf bonvalot.net. Das hier veröffentlichte Interview wurde schriftlich geführt. Übersetzung: Adil Demirci