Imam Taşçıer: „Muttersprache ist Ausdruck von Identität“

Der HDP-Abgeordnete Imam Taşçıer wurde im türkischen Parlament daran gehindert, eine Rede auf Kurdisch zu halten. Der kurdische Politiker sagt, das Verbot einer Sprache sei in keiner Weise nachvollziehbar.

Das türkische Parlament debattiert seit Anfang der Woche den Haushaltsentwurf der Regierung für das kommende Jahr. Traditionell geht es bei den Etatdebatten hitzig zu, aggressive Entgleisungen vor allem von Mitgliedern der nationalistischen Parteien gegenüber Andersdenkenden sind geprägt von Intoleranz und haben mit Meinungsfreiheit und Demokratie nichts zu tun. Das wurde zuletzt wieder am Dienstag deutlich. Zunächst wurde ein Abgeordneter der neofaschistischen MHP-Abspaltung Iyi-Partei von einem Parlamentarier der regierenden AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verprügelt. Später wurde dann noch einem Abgeordneten der HDP durch den Vizepräsidenten des Parlaments das Wort entzogen. Der Grund: eine auf Kurdisch gehaltene Rede.

Die HDP nutzt die Haushaltsdebatten traditionell zu scharfer Kritik an der Politik des türkischen Regimes. Imam Taşçıer aus dem Wahlkreis Amed (tr. Diyarbakir) wollte in diesem Zusammenhang auf die Unterdrückung der kurdischen Sprache in der Türkei hinweisen. Doch kaum stimmte er seine Rede an, wurde der Politiker auch schon unterbrochen. „Die einzige offizielle Sprache in der Türkei ist Türkisch“, so der stellvertretende Parlamentspräsident Haydar Akar von der republikanischen CHP.

Taşçıer erklärte zu dem Vorfall gegenüber ANF, dass die Assimilationspolitik gegen die Kurd:innen seit Gründung der Republik Türkei systematisch fortgesetzt worden sei: „Die faschistische Verfassung vom 12. September 1982 wurde 19 Mal geändert. Es gab es jedoch keine Änderungen in Bezug auf die kurdische Sprache, den Status, die Rechte und Freiheiten der Kurdinnen und Kurden. Artikel 42 der Verfassung verbietet offiziell die kurdische Sprache; Artikel 3 der Verfassung besagt, dass jeder in der Türkei lebende Mensch ein Türke ist.“

Wenn man nicht gegen Verbote kämpft, werden sie nie aufgehoben

Er habe im Parlament Kurdisch sprechen wollen, seine eigene Sprache, die als verboten gilt, so Taşçıer: „Ich wusste, dass es verboten ist, aber wenn man sich nicht wehrt und gegen die Verbote kämpft, werden diese nie aufgehoben. Für mich war es wichtig, das Verbot zu überwinden. Deshalb wollte ich bei den Haushaltsberatungen meine Meinung auf Kurdisch äußern. Ich sagte, dass es im Haushalt nichts für die Kurden gibt, und der einzige Grund dafür ist, dass die kurdische Identität und Kultur nicht anerkannt werden. Da die kurdische Identität nicht gesetzlich und verfassungsrechtlich geschützt ist, wird dafür auch kein Haushalt vorgesehen. Und weil ich versucht habe, dies zum Ausdruck zu bringen, wurde ich unterbrochen.“

Bis heute sind alle Assimilierungsversuche gescheitert

Taşçıer betonte, dass die HDP die Forderung nach Anerkennung der kurdischen Sprache und einem gesetzlich garantierten Status für Kurd:innen auf jeder Plattform zur Sprache bringt. „Wenn wir unsere Gedanken und Stimmen gegen das Verbot der kurdischen Identität und Sprache in der Verfassung nicht zum Ausdruck bringen, werden diese Verbote nie aufgehoben werden“, erklärte er.

„Der Vorfall zeigt auch, wie die CHP die kurdische Sprache und die demokratischen Rechte und Freiheiten der Kurdinnen und Kurden sieht. Von den rückständigsten bis zu den fortschrittlichsten Ländern der Welt gibt es keine solche Praxis in Ländern mit mehr als einer Sprache. Das gab es weder unter Saddam noch unter Assad. Selbst in den schlimmsten Diktaturen gibt es keine solche Intoleranz. Seit der Gründung der Republik will der Staat alle Menschen in der Türkei assimilieren und türkisieren. Dadurch sollte ein Nationalstaat geschaffen werden. Aber die Kurden konnten nicht assimiliert werden. Jahrhundertelang haben die Besatzer sie mit Hinrichtungen, Gefängnissen, Tötungen und auch mit der so genannten „Reform der Ostgebiete“1 von 1925 nicht besiegen können. Es macht also keinen Sinn, weiterhin darauf zu bestehen. Wir werden die kurdische Forderung nach Status und Anerkennung der Sprache auf jeder Plattform zur Sprache bringen."

Taşçıer erläuterte, dass die Ernennung von Zwangsverwaltern für die Kommunen in Kurdistan die Sichtweise des Staates auf die Kurd:innen zeige: „Wenn der Bürgermeister einer Stadt in der Türkei wegen eines Vergehens verurteilt wird, wird eines der Ratsmitglieder an seiner Stelle ernannt. Das ist in Kurdistan nicht der Fall."

Sprachen sind kein Grund für Desintegration und Teilung

Die Muttersprache sei auch Ausdruck der Identität und ein Indikator für die Existenz einer Nationalität, eines Volks, betonte Imam Taşçıer und fügte hinzu: „Auf diese Weise spiegeln wir die Kultur wider, die wir aus der Vergangenheit, von unseren Vorfahren und von unseren Müttern geerbt haben. Ich bin selbst Lehrer und habe auf Türkisch unterrichtet, aber ich kann nicht so frei Türkisch sprechen wie Kurdisch, weil sich diese Erinnerung im Gedächtnis des Menschen festsetzt. Das Verbot einer Sprache ist in keiner Weise nachvollziehbar. Sprachen sind kein Grund für Desintegration und Teilung. In vielen Ländern der Welt gibt es Dutzende von Amtssprachen. Aber wenn wir unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Identität verteidigen, wird so getan, als würden wir dieses Land zerschlagen.

Wir fordern, das alle der in der Türkei gesprochenen Sprachen und Nationalitäten respektiert werden. Wenn der Gebrauch der kurdischen Sprache im Parlament verhindert wird, wird sich dies auf alle Institutionen ausweiten. Wir müssen aus der nationalstaatlichen Struktur herauskommen. Die Kurden müssen jetzt einen Status erhalten. Solange die Kurdinnen und Kurden sich in ihrem eigenen Land nicht selbst regieren, werden sie solchen Praktiken ausgesetzt sein. Die AKP ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht, aber sie hat keine verfassungsrechtlichen Regelungen und Änderungen für die kurdische Sprache und die kurdische Identität vorgenommen."


1Die Reform der Ostgebiete von 1925 umfasste unter anderem die Zwangsumsiedlung von Kurd:innen und die geplante Besiedlung der Gebiete mit Menschen aus anderen Teilen der Türkei, das Verbot der kurdischen Sprache, die Verhängung von Kriegsrecht über die kurdischen Gebiete auf unbestimmte Dauer und das Beschäftigungsverbot für Kurd:innen im Staatsdienst. Erklärtes Ziel war es, die Bildung einer kurdischen Elite in der Türkei zu verhindern.