Helebce: Eine Wunde, die nicht heilt

Der 16. März markiert einen der dunkelsten Tage in der jüngeren Geschichte des kurdischen Volkes und der Menschheit insgesamt: den Jahrestag des verheerenden Giftgasangriffs auf Helebce im Nordirak. Auch Deutschland trägt Verantwortung für das Verbrechen.

Einer der dunkelsten Tage der Menschheit

Vor nunmehr 37 Jahren, am 16. März 1988, setzte die irakische Luftwaffe unter dem Regime von Saddam Hussein chemische Waffen gegen die überwiegend kurdische Zivilbevölkerung in Helebce (Halabdscha) ein. Innerhalb weniger Stunden starben schätzungsweise 5000 unschuldige Menschen, während Zehntausende weitere schwerste Verletzungen davontrugen, die ihr Leben bis heute prägen. Der Angriff, bei dem Senfgas und Nervengase wie Sarin und Tabun zum Einsatz kamen, gilt als der bis dato tödlichste chemische Angriff auf eine zivile Bevölkerung.

Gebete, dass alles nur ein böser Traum sei

Die Sinneswahrnehmungen der Überlebenden sind bis heute erschütternd. Viele berichten von einem anfänglichen Geruch nach fauligem Müll, der sich auf beunruhigende Weise in einen süßlichen Duft von Äpfeln verwandelte. Dieses tückische Aroma, im Kurdischen als „behna seva te“ oder im Türkischen als „elma kokusu“ bekannt – was beides „der Geruch nach Äpfeln“ bedeutet –, wurde zum grausamen Vorboten des Todes. Aras Arbid, ein Überlebender, erinnerte sich daran, dass es nach der Bombardierung um zwei Uhr nachmittags im Haus nach Gas und Knoblauch aber vor allem nach Äpfeln roch, sodass Kinder und Erwachsene es arglos einatmeten.

Der türkische Fotograf Ramazan Öztürk, der die Stadt nur 24 Stunden nach dem Angriff erreichte, schilderte eine gespenstische Stille, in der kein Vogel und kein Tier mehr lebte. Die Straßen waren übersät mit Leichen von Menschen jeden Alters, darunter Säuglinge in den Armen ihrer toten Mütter und Kinder, die im Todeskampf ihre Väter umarmt hatten. Öztürk selbst gab an, beim Fotografieren unaufhörlich geweint und gebetet zu haben, dass alles nur ein böser Traum sei.

Eine entsetzliche Chronik

Der Giftgasangriff auf Helebce war kein isolierter Vorfall, sondern reiht sich auf tragische Weise in eine lange Chronik des Einsatzes chemischer Waffen gegen das kurdische Volk ein. Bereits in den Jahren 1937/38 wurden während des Massakers von Dersim in der Türkei laut türkischen Archivdokumenten Brandbomben und Giftgas eingesetzt, wobei schätzungsweise zehn Prozent der lokalen Bevölkerung getötet wurden.

Spätestens in den 1980er Jahren eskalierte der Einsatz chemischer Waffen durch das irakische Regime von Saddam Hussein im Zuge der sogenannten Anfal-Kampagne, die parallel zum Angriff auf Helebce stattfand. Innerhalb weniger Monate wurden Dutzende kurdische Dörfer mit Giftgas angegriffen, Hunderte weitere bombardiert und Tausende Menschen deportiert.

Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Berichte über den Einsatz chemischer Waffen gegen Kurd:innen in verschiedenen Regionen, darunter im Irak, in Syrien durch das Assad-Regime im Jahr 2013 in Saraqib, durch den selbsternannten „Islamischen Staat“ im Jahr 2017 im Nordirak und zuletzt gibt es alarmierende Augenzeug:innenberichte und Videobeweise für den mutmaßlichen Einsatz von Giftgas durch die Türkei im anhaltenden Konflikt gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit den Großoffensiven von 2008 und 2021.

Kamaran Othman, Vorsitzender der Community Peacemaker Teams (CPT) in der Kurdistan-Region des Irak, äußerte die Befürchtung, dass die Türkei sowohl in Rojava als auch in Qandil Giftgas einsetze und berichtete von zahlreichen Zeug:innenberichten und Videos.

Verstrickungen deutscher Unternehmen

Die Gräueltaten von Helebce werfen bis heute einen düsteren Schatten auf die internationale Gemeinschaft, insbesondere angesichts der schwerwiegenden Anschuldigungen der Verstrickung deutscher Unternehmen in die Entwicklung und Produktion der irakischen Chemiewaffen. Berichten von Medico International zufolge stammten über zwei Drittel der irakischen Giftgasanlagen von deutschen Firmen. Namentlich werden in diesem Zusammenhang die Preussag AG (die sich 2002 in TUI umbenannte), die Firma Karl Kolb und deren Subunternehmen Pilot Plant sowie die Konstruktionsfirma Heberger Bau genannt. Diesen Unternehmen wird vorgeworfen, nicht nur sogenannte Dual-use-Güter wie Unkrautvernichtungsmittel geliefert zu haben, sondern die komplette Infrastruktur zur Massenvernichtung bereitgestellt zu haben, einschließlich Bunker, Abfüllanlagen, Kühlhäuser und sogar Gaskammern, die mutmaßlich zum Testen der Giftstoffe an Hunden, Eseln und möglicherweise iranischen Kriegsgefangenen dienten. Der US-amerikanische Anwalt Gavriel Mairone, der Überlebende in einem Prozess vertritt, hält drei deutsche Firmen für die wichtigsten Akteure beim Bau der Giftgasanlagen unter Saddam Hussein.

Keine rechtliche Aufarbeitung deutscher Machenschaften

Obwohl der US-Geheimdienst CIA bereits in den frühen 1980er Jahren das Kölner Zollkriminalinstitut mit hunderten von Dokumenten über die enge Kooperation deutscher Firmen mit dem Saddam-Regime informierte, blieb eine tiefgehende strafrechtliche Aufarbeitung von deutscher Seite weitestgehend aus. In dem einzigen größeren Strafverfahren Anfang der 1990er Jahre vor dem Landgericht in Darmstadt ging es lediglich um den Vorwurf des Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz, nicht aber um die Beteiligung an Kriegsverbrechen. Die meisten Angeklagten wurden freigesprochen, da ihnen keine hinreichende Kenntnis über den tatsächlichen Zweck der Anlagen und deren besondere Eignung zur Giftgasproduktion nachgewiesen werden konnte. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, inwieweit die deutsche Bundesregierung damals über die Vorgänge informiert war. Brisante Informationen deuten jedoch darauf hin, dass die deutsche Botschaft in Bagdad bereits Anfang der 1980er Jahre von einem Mitarbeiter der beteiligten Firmen darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es sich bei den Geschäften nicht um reine Schädlingsbekämpfung handelte. Dieser Mitarbeiter wurde daraufhin gekündigt.

Keine Entschädigungszahlungen an die Opfer

Trotz dieser alarmierenden Signale und der erdrückenden Beweislage blieben Entschädigungszahlungen von Deutschland an die Opfer von Helebce bis heute aus. Diese Zurückhaltung wird von vielen Beobachter:innen und Betroffenen als Ausdruck einer generell problematischen Haltung der deutschen Politik gegenüber den Kurd:innen interpretiert. Menschenrechtsanwalt Gavriel Mairone wirft der deutschen Bundesregierung vor, zu jedem Zeitpunkt über die Machenschaften der deutschen Firmen informiert gewesen zu sein und dennoch nichts unternommen zu haben, um die Errichtung der Giftgasfabriken im Irak zu stoppen.

Keine Anerkennung des Genozids durch Internationalen Strafgerichtshof

Die Überlebenden und Hinterbliebenen von Helebce fordern seit Jahrzehnten unermüdlich Gerechtigkeit und eine uneingeschränkte Anerkennung des Massakers als Völkermord. Während das irakische Parlament Helebce offiziell als Genozid anerkannt hat, fehlt eine vergleichbare Anerkennung durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, was viele Betroffene auf den weiterhin bestehenden Einfluss mächtiger Staaten zurückführen, die den Irak während des achtjährigen Krieges gegen den Iran maßgeblich unterstützten.

Auch im Deutschen Bundestag wurde ein fraktionsübergreifender Antrag der Linkspartei im Februar 2021, der die Anerkennung der Anfal-Operation und des Massakers von Helebce als Völkermord forderte und die deutsche Mitverantwortung betonte, im Mai 2021 vom Menschenrechtsausschuss abgelehnt. CDU/CSU, SPD, FDP und AfD stimmten gegen den Antrag, während sich die Grünen enthielten.

Kai Gehring von der Grünen-Fraktion begründete die Enthaltung unter anderem mit der Kritik an der Art des Befassens mit solch schweren Verbrechen und der unzureichenden Einordnung der „Anfal Operation“ in den historischen Gesamtkontext. Peter Heidt von der FDP-Fraktion betonte die Notwendigkeit einer genauen juristischen Prüfung, ob der Tatbestand des Völkermordes erfüllt sei. Helin Evrim Sommer, die den Antrag eingebracht hatte, zeigte sich enttäuscht über die zögerliche Haltung der deutschen Politik und forderte, dass die Überlebenden von Saddams Massaker noch zu Lebzeiten Gerechtigkeit erfahren müssten. Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker sieht in der Zurückhaltung der deutschen Politik gegenüber Helebce eine generelle Haltung gegenüber den Kurd:innen.

Tiefe psychische und physische Narben

Für die Menschen in Helebce ist die traumatische Erinnerung an den „Geruch von Äpfeln“ bis heute allgegenwärtig und untrennbar mit dem Verlust ihrer Liebsten und der Zerstörung ihrer Heimat verbunden. Trotz des teilweisen Wiederaufbaus der Stadt sind die psychischen und physischen Narben tief in der Gesellschaft verankert. Die anhaltende fehlende umfassende Aufarbeitung der deutschen Verstrickung und die ausbleibenden Reparationszahlungen führen zu anhaltendem Zorn, Frustration und einem tiefen Gefühl der Ungerechtigkeit in der Bevölkerung.

Das kollektive Trauma wirkt fort

Die Gemeindevorsteherin von Helebce, Kwestan Akram Faraj, die den Angriff als junge Frau überlebte und sieben Verwandte verlor, erinnert daran, dass Helebce vor dem Verbrechen von 1988 berühmt für seine Kultur war. Es war ein Ort friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religionen und Ethnien. Heute leiden viele Überlebende immer noch an den gesundheitlichen Spätfolgen des Giftgases. Die Psychologin Niyaz Aziz betont das kollektive Trauma, das in Helebce fortwirkt, da viele den Verlust ihrer Angehörigen noch immer nicht verarbeitet haben. Der Überlebende Omid Hama Ali Rashid fasst den tiefen Wunsch der Menschen in Helebce zusammen: Sie wollen gesehen werden und ihr Schicksal soll als das anerkannt werden, was es war – ein schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit und kein x-beliebiges Kriegsverbrechen. Aras Arbid, der selbst 26 Familienmitglieder verlor und bis heute keine Entschädigung erhalten hat, hat gemeinsam mit anderen Betroffenen Klage gegen die beteiligten deutschen Firmen eingereicht; die Vorwürfe: Beihilfe zu Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die konsequente historische und juristische Aufarbeitung des Verbrechens ist nötig

Es bleibt eine dringende Mahnung, dass die Verantwortlichen für das Massaker in Helebce – sowohl die direkten Täter als auch jene, die durch ihre Beihilfe dazu beitrugen – endlich zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Nur durch eine konsequente historische und juristische Aufarbeitung des Verbrechens und die uneingeschränkte Anerkennung des immensen Leids der Opfer kann ein nachhaltiges Ende der Gewalt und ein gerechter Frieden in der Region gefördert werden. Die von Kamaran Othman beklagte „Blindheit“ der internationalen Gemeinschaft gegenüber solch schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen darf nicht länger anhalten.

Solidarität und Gedenken in Deutschland geplant

Ein wichtiges Zeichen der Solidarität und des Gedenkens wird auch in Deutschland gesetzt: Am 16. März 2025 lädt der internationale kurdische Freundschaftsverein Landshut e.V. gemeinsam mit den Landshuter Kammerspielen zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 37. Jahrestags des Giftgasangriffs auf Helebce ein. Unter dem eindringlichen Motto „Hinschauen – Worte finden – Erinnern“ werden Betroffene zu Wort kommen (teilweise in einer bewegenden Liveübertragung direkt aus Helebce). Ein Theaterstück des kurdischen Regisseurs Dr. Hawre Zangana wird die komplexen Hintergründe des Angriffs beleuchten, und die Schauspielerin Katja Amberger wird Auszüge aus Michael Friedmans Werk „Fremd“ lesen. Diese bedeutsame Veranstaltung im kleinen theater - KAMMERSPIELE Landshut (Beginn um 15:00 Uhr, Ende gegen 18:00 Uhr) bietet allen Interessierten die Möglichkeit, gemeinsam des Grauens zu gedenken und ein unmissverständliches Zeichen gegen das Vergessen zu setzen. Die fortwährende Erinnerung an Helebce und das Streben nach Gerechtigkeit für seine Opfer bleiben eine moralische Verpflichtung für alle.

Foto © YA-Media Kollektiv, Friedhof der 5000 Opfer in Helebce