HDP: Justizreform in der Türkei? Rache statt Rechtsstaatlichkeit

Kaum wurde von Seiten der türkischen Regierung angekündigt, die Justiz neu zu „mobilisieren“, sind mehr als 30 kurdische Anwälte zur Fahndung ausgeschrieben worden. „Justizreform in der Türkei? Eher Rache statt Rechtsstaat”, erklärt Ümit Dede.

Der stellvertretende HDP-Vorsitzende und rechtspolitische Sprecher Ümit Dede hat die heutige Festnahmewelle in der Türkei als ein Ergebnis der Unterdrückungspolitik des türkischen Staates gegen die kurdische Gesellschaft bezeichnet und die angekündigte Justizreform eine Farce genannt. „Justizreform in der Türkei? Das bedeutet unter der AKP Rache statt Rechtsstaat”, kommentierte Dede die Festnahmen, die ohne jegliche juristische Legitimation erfolgt seien, und fordert die sofortige Freilassung der Betroffenen.

In einem weiteren politischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Zivilgesellschaft sind am Freitag mindestens 72 Personen, darunter 24 Anwältinnen und Anwälte sowie mehrere Ärztinnen und Ärzte, in mehreren Provinzen festgenommen worden. Den Betroffenen wird vorgeworfen, Mitglieder des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses Kongreya Civaka Demokratîk -KCD- (dt. Demokratischer Gesellschaftskongress, tr. Demokratik Toplum Kongresi) zu sein. Unter ihnen befinden sich mindestens siebzehn Jurist*innen des Freiheitlichen Juristenvereins ÖHD sowie zahlreiche Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Insgesamt sind auf Grundlage des von der Generalstaatsanwaltschaft in Amed (türk. Diyarbakir) geführten Ermittlungsverfahrens 101 Personen zur Fahndung ausgeschrieben. Begründet werden die Festnahmebefehle damit, dass die Namen der Gesuchten in Unterlagen des KCD erwähnt worden seien. Einigen wird zudem vorgeworfen, Mitglied in dem 2016 per Notstandsdekret verbotenen Verein der Juristen aus Mesopotamien (Mezopotamya Hukukçular Derneği) gewesen zu sein.

Seit 2015 repressivere Kurdenpolitik

„Regierungen greifen seit jeher das Recht auf Verteidigung sowie Anwältinnen und Anwälte mit unterdrückenden und faschistischen Methoden an. Den Jurist*innen und ihre Forderung nach Gerechtigkeit, die Verteidigung von Rechten und Freiheiten wird von diesen Regierungen als Bedrohung für ihre eigenen Interessen und ihre Existenz ansehen”, erklärte Dede. Insbesondere, seit die türkische Regierung 2015 den Friedensprozess mit der PKK einseitig beendete und wieder zu ihrer repressiven Kurdenpolitik zurückkehrte, leide die kurdische Gesellschaft und mit ihr die demokratische Opposition massiv unter den autoritären Zügen der „faschistischen“ AKP/MHP-Koalition. Die Justiz sei im festen Griff der Regierung und fungiere als Vollstreckungsorgan von Erdoğans Verfolgungswahn. Statt rechtsstaatliche Verhältnisse zu etablieren werde Rache an denjenigen genommen, die sich 2015 der Strategie der Regierung, den Kurdinnen und Kurden im Gegenzug für begrenzte Zugeständnisse den Verzicht auf weitergehende Ansprüche abzuringen, entgegenstellten. So sei es nicht verwunderlich, dass nun auch Anwältinnen und Anwälte im Visier der Erdoğan-Justiz seien, die trotz der Repression „ihre Unabhängigkeit und berufliche Würde” bewahren konnten und „auf der Seite von Recht und Gerechtigkeit stehen”.

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).