HDP im Kessel: Polizeibelagerung gegen Protest

Die türkische Polizei wird nicht müde in ihren Versuchen, die Stimmen der Opposition zu unterdrücken. Mit einem Großaufgebot ließ die Behörde den Kreisverband in Kadıköy abschirmen, Mithat Sancar sprach von einem „Spiegelbild der Angst“.

„Ein Spiegelbild der Angst eines verbrecherischen Regimes, das seinem Untergang entgegensieht“ – mit diesen Worten beschrieb der HDP-Vorsitzende Mithat Sancar am Montag in Istanbul die Belagerung des Kreisverbands seiner Partei im Stadtteil Kadıköy, durch die eine Protestveranstaltung anlässlich des gewaltsamen Vorgehens der Polizei gegen die finale „Gerechtigkeitswache“ von Gefangenenangehörigen, bei der ein Beamter am Sonntag den HDP-Politiker Ferhat Encü geohrfeigt hatte, verhindert werden sollte. Die Bereitschaftspolizei war wie gestern wieder mit einem Großaufgebot und Panzerfahrzeugen im Einsatz, hunderte Beamte nahmen das Parteigebäude und umliegende Straßen mit Verweis auf ein von der örtlichen Verwaltungsbehörde ausgesprochenes Versammlungsverbot regelrecht in die Zange. Führenden Parteimitgliedern wurde der Zugang in das Büro verwehrt und selbst die Doppelspitze aus Mithat Sancar und Pervin Buldan, die gemeinsam mit weiteren Parlamentsabgeordneten aus Ankara angereist waren, durften den Kessel über einen längeren Zeitraum nicht verlassen. Auch kam es wieder zu Festnahmen.

Sancar: Der Untergang des kriminelles Imperiums steht bevor

„Warum spreche ich von einem Spiegelbild der Angst?“, fragte Sancar in einer Ansprache mit Blick auf die aufmarschierte Polizei. „Weil das in diesem Augenblick gezeichnete Bild hier die Furcht der Herrschenden vor dem entschlossenen Kampf für Demokratie, dem hartnäckigen und beharrlichen Widerstand für Freiheit reflektiert. Wovor fürchten sie sich noch? Vor jenem Tag, an dem ihr kriminelles Imperium in den Abgrund gestürzt wird.“ Das Bemühen ums eigene Überleben sei auch der Hauptgrund für die verschärfte Aggressivität der türkischen Regierung gegen alle Kreise, die sich für einen Systemwandel im Land einsetzten, führte Sancar weiter aus. Gleichermaßen verhalte es sich mit der Ohrfeige gegen Encü. „Sie sollen wissen: Wir werden unseren Kampf nicht aufgeben. Die deutlichste Antwort werden wir an der Wahlurne geben. Die Herrschenden werden sich der Rechenschaft für ihre Verbrechen nicht entziehen können. Diesem Land wird früher oder später eine Ordnung der Gerechtigkeit zukommen. Niemand kann verhindern, dass die Herrschenden von heute die Verurteilten von morgen sein werden. Wer glaubt, dass polizeiliche Blockaden wie diese abschreckend wirkten und uns von unserem Kampf abhalten könnten, der irrt sich gewaltig. Diese Regierung wird sich nicht schützen können vor der großen Antwort auf die Ohrfeige, die sie an der Wahlurne erhalten wird.“

Buldan: Ohrfeige als Ausdruck des tief sitzenden Hasses gegen Kurden

Pervin Buldan sprach ebenfalls einige Worte. Die Gewalt gegen ihren ehemaligen Fraktionskollegen Ferhat Encü, der zwischen 2015 und 2018 als Abgeordneter aus Şirnex (tr. Şırnak) im türkischen Parlament saß und aktuell den Istanbuler Provinzverband der HDP zusammen mit Ilknur Birol genderparitätisch leitet, bezeichnete Buldan als „Ausdruck des tief sitzenden Hasses gegen das kurdische Volk“ und einen „triefend schwarzen Fleck“, der auf der Demokratie, Justiz und Gerechtigkeit im Land klebe. Scharf kritisierte die Politikerin auch einen Kessel, den die Polizei innerhalb des Belagerungsrings rund um das HDP-Gebäude gezogen hatte und führende Parteimitglieder darin umzingelte. „Erneut befindet sich die drittgrößte Partei im Parlament dieses Landes unter einer Blockade einer intoleranten und demokratiefeindlichen Regierung – diesmal und wiederholt durch von diesem Regime befehligten Sicherheitskräften. Doch unser Widerstand gegen die Herrschenden lässt sich nicht durch rechtswidrige Verordnungen und nicht gerechtfertigte Eingriffe in die Versammlungsfreiheit verbieten.“

Rund 100 Festnahmen

Außerhalb des Belagerungsrings gab es immer wieder lauten Applaus und Parolen von Mitgliedern der HDP sowie und Angehörigen anderer Gruppen und Parteien, die unter ihrem Dach vereint sind. Die Polizei führte zahlreiche Festnahmen durch und wendete dabei teilweise massive Gewalt an. Nach bisherigem Stand wurden rund 100 Personen abgeführt, darunter auch wieder mehrere Mütter von kranken und politischen Gefangenen, die seit Monaten mit der im März initiierten „Gerechtigkeitswache“ für das Leben ihrer inhaftierten Kinder kämpften. Auch die Istanbuler HDP-Vorsitzenden Ilknur Birol und Ferhat Encü befinden sich in Gewahrsam. Encü war schon am Vortag mit 68 weiteren Personen festgenommen und erst gegen Mitternacht wieder freigelassen worden. Zuvor war man von rund 50 Festnahmen am Sonntag ausgegangen. Eine etwa zeitgleich in Izmir an der Ägäis stattfindende Protestaktion war ebenfalls von der Polizei angegriffen worden, dutzende Menschen wurden vorübergehend festgenommen. Der aus Bodrum angereiste HDP-Politiker Mehmet Zahir Yaşar hatte während seiner Festnahme einen Herzinfarkt erlitten und musste notoperiert werden.