Die Aufforderung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, zehn Botschafter in der Türkei zu „unerwünschten Personen“ zu erklären, bestimmt international die Schlagzeilen. Die Ko-Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan und Mithat Sancar, warnen davor, dass die „Botschafterkrise“ die Türkei international weiter isolieren könnte und zu grundlosen Konflikten und einem ökonomischen Zusammenbruch führen werde. Ein Indiz für die Richtigkeit dieser These ist die Tatsache, dass die Türkische Lira nach Erdoğans Erklärung einen weiteren Tiefpunkt erreicht hat und nun mit 11,36 TL gegenüber dem Euro steht.
Die Botschafter der USA sowie von Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Kanada, Norwegen und Neuseeland hatten vergangene Woche in einem gemeinsamen Appell zur Freilassung des Bürgerrechtlers Osman Kavala aufgerufen. Als Folge hatte Ankara die Botschafter einbestellt und mit deren Ausweisung gedroht. Die türkische Führung bezeichnete den Aufruf der Länder zur Freilassung Kavalas als „inakzeptabel“. Innenminister Süleyman Soylu warf den Botschaftern sogar einen unzulässigen Eingriff in ein laufendes Justizverfahren vor. Die Forderung nach der Freilassung von Kavala werfe einen Schatten auf das Verständnis der diplomatischen Vertreter von Recht und Demokratie, hieß es. Kavala sitzt seit vier Jahren ohne Verurteilung im Gefängnis. Er wird beschuldigt, die Proteste beim Gezi-Widerstand 2013 in Istanbul organisiert und mit ausländischer Hilfe finanziert zu haben. Außerdem soll er bei dem als Umsturzversuch bezeichneten Pseudoputsch vom Sommer 2016 politische oder militärische Spionage betrieben haben.
„Entscheidung wird auf die Türkei zurückfallen“
„Der Versuch, die Botschafter:innen zu ‚unerwünschten Personen‘ zu erklären‘, ist ein erneuter Ausdruck der Inkonsistenz der türkischen Außenpolitik und ein Mittel, zu dem Länder normalerweise selbst im Krieg selten greifen“, erklärten Buldan und Sancar am Montag. Dieses Vorgehen widerspreche den Interessen der Bevölkerung des Landes. „Bei den betroffenen Ländern handelt es sich außer bei den USA, Neuseeland und Kanada um Staaten, mit denen die Türkei gemeinsam im Europarat sitzt. Außerdem hat die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet.“ Es sei unbegreiflich, dass die Vertreter:innen dieser Länder einer solchen Behandlung unterzogen würden, weil sie von der Türkei die Einhaltung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einfordern. „Für ein Land, das sich im Konflikt mit all seinen Nachbarstaaten befindet, dessen Währung ständig an Wert verliert, dessen Auslandsschulden die Grenze von 400 Milliarden überschritten haben und dessen Ressourcen zu einem wichtigen Teil in Krieg und Rüstung fließen, sind neue Feinde das, was es am wenigsten bräuchte.“
„Unabhängigkeit der Justiz nicht existent“
Die HDP-Vorsitzenden unterstreichen, dass Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr existiere. Das Regime halte seine politischen Gegner:innen als Geiseln und sein Präsident habe deutlich gemacht, dass es die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des EGMR nicht anerkennt. In einer solchen Zeit sei es einfach nur unglaubwürdig, die Erinnerung an internationale Gerichtsurteile, die für die türkische Justiz bindend sind, als Einmischung in die Unabhängigkeit der Justiz zu geißeln.
„Den Preis zahlt die verarmende Bevölkerung“
Das Regime versuche, sich durch künstliche Krisen aus seiner Sackgasse zu befreien. „Dieser Schritt, der mit dem die Ausweisung der Botschafter:innen vorbereitet wird, wird das Land in neue Sackgassen führen und die ökonomische Krise und die Entwertung der Lira beschleunigen. Die Bevölkerung muss dafür dann die Rechnung bezahlen. Wenn die Türkei wirklich weiterhin behaupten will, zur zivilisierten Welt zu gehören, kann der Präsident nur die politischen Hindernisse für die Umsetzung von EGMR-Entscheidungen beseitigen“, erklären Buldan und Sancar.
Erdoğan versuche auch durch falsche, illegale und empörende Anschuldigungen gegen Selahattin Demirtaş und seine Ehefrau Başak Demirtaş, die rechtswidrige Inhaftierung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP zu rechtfertigen, so die HDP-Spitze. „Wir verurteilen dies aufs Schärfste. Wir wiederholen, dass wir werden ihn für seine Worte vor dem öffentlichen Gewissen und dem Gesetz verantwortlich machen.“