Im Streit um den inhaftierten Kulturförderer Osman Kavala lässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zehn Botschafter, unter anderem aus Deutschland und den USA, zu „unerwünschten Personen“ erklären. „Ich habe unserem Außenminister den Befehl gegeben. Ich sagte, kümmern Sie sich darum, diese zehn Botschafter so schnell wie möglich zur ‚Persona non grata‘ zu erklären“, sagte Erdoğan am Samstag bei einer Parkeröffnung im zentralanatolischen Eskişehir.
In der Diplomatie gilt dies als Ansage einer Ausweisung. In gewohnt robuster Sprache äußerte sich Erdoğan gegenüber den Staaten der Botschafter: „Steht euch zu, der Türkei so eine Lektion zu erteilen? Wer seid ihr schon?“
Streit um Appell zur Freilassung Kavalas
Die Botschafter der USA sowie von Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Kanada, Norwegen und Neuseeland hatten Anfang der Woche in einem gemeinsamen Appell zur Freilassung des Bürgerrechtlers Osman Kavala aufgerufen. Als Folge hatte Ankara die Botschafter einbestellt und mit deren Ausweisung gedroht. Die türkische Führung bezeichnete den Aufruf der Länder zur Freilassung Kavalas als „inakzeptabel“. Innenminister Süleyman Soylu warf den Botschaftern sogar einen unzulässigen Eingriff in ein laufendes Justizverfahren vor. Die Forderung nach der Freilassung von Kavala werfe einen Schatten auf das Verständnis der diplomatischen Vertreter von Recht und Demokratie, hieß es.
Ohne Urteil im Gefängnis
Osman Kavala sitzt seit vier Jahren hinter Gittern, ohne verurteilt worden zu sein. Er wird beschuldigt, die Proteste beim Gezi-Widerstand 2013 in Istanbul organisiert und mit ausländischer Hilfe finanziert zu haben. Außerdem soll er bei dem als Umsturzversuch bezeichneten Pseudoputsch vom Sommer 2016 politische oder militärische Spionage betrieben haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte bereits 2019 Kavalas sofortige Freilassung gefordert. Die Türkei ignoriert das Urteil. Im September hatte der Europarat der Türkei unter Verweis auf das EGMR-Urteil mit Disziplinarmaßnahmen gedroht, falls sie Kavala nicht bis Ende November freilässt. Auch im Fall des kurdischen HDP-Politikers Selahattin Demirtaş setzt sich die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan über Urteile des EGMR hinweg.
Land steht vor wirtschaftlichem Abgrund
Es bleibt abzuwarten, ob die Ausweisung der Diplomaten tatsächlich erfolgen wird. Möglicherweise zeugt das Wüten des Staatschefs in Ankara von seiner zunehmenden Nervosität. Angesichts des Falls der türkischen Lira durch die neuerliche Zinssenkung und einer galoppierenden Inflation steht das Land vor einem wirtschaftlichen Abgrund. Eine Bevölkerung, die nicht mehr weiß, wovon sie Lebensmittel und Mieten bezahlen soll, kann schnell aufbegehren und wird sich auch mit zugeworfenen Teebeuteln nicht mehr abspeisen lassen. Hinzu kommen die außenpolitische Isolation sowie die Rückschläge im Besatzungskrieg in Südkurdistan (Nordirak). Dass die hoch gerüstete türkische Armee machtlos ist gegen die Guerilla von HPG und YJA Star und selbst ein international geächteter Einsatz von Chemiewaffen den Widerstand der PKK nicht brechen kann, dürfte den türkischen Präsidenten zunehmend unberechenbar machen.