Guerillakommandant: Mission erfüllt, Ezid*innen sind organisiert

Die Guerillakräfte der HPG und YJA-Star, die im Şengal die ezidische Bevölkerung beschützten, haben sich auf Entscheidung der KCK aus der Region zurückgezogen. Unser Kollege Selami Aslan sprach mit dem HPG-Kommandanten Serxwebûn Azadî über ihren Rückzug.

Als der Islamische Staat am 3. August 2014 in Şengal, der Heimat der Ezid*innen, einfiel und einen Völkermord an der Bevölkerung verübte, waren die Sicherheitskräfte der autonomen Regionalverwaltung, die Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), bereits abgezogen und hatten die Ezid*innen den Schergen des Islamischen Staates überlassen. Tausende Menschen wurden getötet, Frauen und Mädchen entführt, auf den Sklavenmärkten des IS verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Die Guerillakräfte der HPG und YJA-Star waren es, die der schutzlosen Bevölkerung Şengals zur Hilfe geeilt und Zehntausenden Menschen das Leben gerettet haben. Einer der ersten Guerillakämpfer, die damals in Şengal eintrafen, ist der HPG-Kommandant Serxwebûn Azadî. Unser Kollege Selami Aslan von der Nachrichtenagentur MA hat mit Azadî über die Anfangszeit im Şengal, die Gründung der ezidischen Selbstverteidigungseinheiten und über die Entscheidung der Gemeinschaft der Gesellschaften (KCK), die Guerilla aus dem Gebiet abzuziehen, gesprochen.

Wie und zu welchem Zweck sind Sie nach Şengal gekommen?

Unser Ziel war es, der Gefahr einer politischen und physischen Vernichtung des ezidischen Volkes zuvorzukommen. Wir sind gekommen, um das Bewusstsein der Ezid*innen zu stärken, Unterstützung bei ihrer Organisierung zu leisten und zu bewirken, dass sie eine Selbstverteidigung schaffen, die stark genug ist, ihre Gesellschaft zu verteidigen.

Haben Sie ihre Ziele erreicht?

Wir haben die uns gesetzten Ziele in einem hohen Niveau realisiert. Die YBŞ, YJŞ, die Sicherheitseinheiten der Asayişa Êzidxan sowie die politischen und administrativen Strukturen wurden organisiert und sind auf Grundlage einer demokratischen Autonomie weiterhin aktiv. Die Ezid*innen haben sich zu einer Kraft entwickelt, die mit ihrem Geist und ihrem Willen die Demokratisierung des gesamten Irak zustande bringen kann. Es war diese Aufgabe, die wir übernommen haben, und wir haben unsere Mission erfüllt.

Mit der Entscheidung der KCK ziehen Sie sich aus Şengal zurück. Was hat dies zu bedeuten?

Da wir unseren Aufgaben nachgekommen sind, haben die KCK erklärt, dass sie die Guerillakämpfer*innen der HPG und YJA-Star aus dem Şengal abziehen. Wir haben unsere historische Pflicht erfüllt und ziehen uns nun zurück. Hier in Şengal hat sich der Geist der Revolution geformt. Auf dieser Erde, die mit dem Blut der Gefallenen getränkt wurde, ist ein entscheidender Grundstein der Revolution gelegt worden. Auch das Volk hält am Geist der Revolution fest und wir wissen, dass sie auch morgen für diese Revolution eintreten werden. Die Ezid*innen werden um ihrer Zukunft Willen weder die Revolution, noch ihre Gefallenen vergessen. Sie sind sich darüber im Klaren und können die Lage gut einschätzen. Wir glauben daran, dass sie sich auf höchstem Niveau bewegen werden.

Gegen den IS sind Sie aus freien Stücken nach Şengal gekommen und verlassen die Stadt auch nach Ihrem eigenen Willen. Wie bewerten Sie die Auswirkungen des Rückzuges?

Wo auch immer Gefahr für unser Volk besteht, ein Genozid beabsichtigt wird, werden wir mit der uns möglichen Kraft dort sein und unsere Bevölkerung verteidigen. Wir werden solange mit unseren Menschen sein, bis sie gerettet wurden, in Freiheit sind, ihren eigenen Willen erreicht und an Stärke gewonnen haben. Wir werden sie unterstützen. Das sind die Prinzipien, die uns 2014 nach Şengal führten. Es ist uns egal, was andere sagen. Wir werden stets in den Gedanken und im Herzen unseres Volkes sein. Unser Volk ist es, das entscheiden wird. Als unsere Interessenvertreterin hat die KCK die Entscheidung über unseren Rückzug auf dieser Grundlage getroffen. Es ist eine richtige Entscheidung.

Was sagen Sie zu der Repression und den Drohungen, die von der Türkei ausgehen?

Das Problem, uns vor jemandem zu fürchten, haben wir nicht. Wir sind die Frauen und Männer einer Revolution, die seit 40 Jahren besteht. Außer der Freiheit gibt es nichts, was wir zu verlieren haben. Unsere Bewegung ist eine Bewegung des Gewissens und der Moral. Wir sind die Vertreter*innen derjenigen, die von sich sagen, dass sie Menschen mit Moral und Gewissen sind. Es besteht unsererseits kein Interesse an dem, was unsere Feinde sagen. Die Grundlage unserer Kraft, unserer Gefühle und unseres Glaubens liegt bei unserem Volk. Serok Apo sagt: „Auch wenn wir die Kraft hätten, die gesamte Welt zu besiegen, greifen wir nicht an. Doch bei einem Angriff auf unser Selbst ist Verteidigung der heiligste Akt.“ Das ist für uns der ausschlaggebende Punkt.

Was sagt die ezidische Bevölkerung, mit der Sie fast vier Jahren zusammen leben, zu Ihrem Rückzug?

Es gibt die Gefühle von Glück, Trauer und Sentimentalität. Es ist so, dass unser Volk unsägliches Leid erlitten hat. Wir haben gemeinsam mit diesen Menschen gelebt und gelitten. Wir haben unsere Nöte geteilt, wir haben unser Brot geteilt. Den Krieg, den Tod und das Glück haben wir gemeinsam erlebt. Die Kinder, die während dem Ferman geboren wurden, wachsen. Sie sind jetzt bald vier Jahre alt. Aus diesem Grund sind die Menschen hier sowohl glücklich, als auch traurig. Sie selbst sagen „Ihr werdet immer in unseren Gedanken und in unseren Herzen sein“. Die Eckpfeiler, die für unser Leben von enormer Bedeutung sind, sind nun auch unverzichtbare Prinzipien für diese Menschen.

Was werden die Ezid*innen von nun an tun? Was geben Sie ihnen mit auf den Weg?

Das ezidische Volk muss an seine Stärke glauben und seine militärischen Kräfte weiter starken. Um ein Niveau zu erreichen, auf dem sie sich in einer Gefahrensituation sowohl in militärischer als auch politischer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht verteidigen können, müssen sie noch stärker kämpfen. Sollten sie das realisieren, werden sie niemals wieder der Gefahr eines Genozides ausgesetzt sein. Wo sie auch sein mögen, im Fall einer Bedrohungen werden wir nicht zögern und uns auf den Weg machen, ohne auch nur eine Stunde Zeit zu verlieren. So etwas wie ausruhen existiert für uns nicht. Wir sind Revolutionäre. Wichtig für uns ist, im Fall von Gefahr das Gebiet zu erreichen, um unser Volk zu schützen. Wir sind nicht wie manch andere, die lediglich für ihre eigenen Interessen aktiv werden. Wir verstehen den Grund unseres Bestehens im Nutzen für unser Volk . Bis zum letzten Tropfen Blut in unseren Adern werden wir unser Leben mit diesem Geist fortsetzen. An oberster Stelle steht für uns die Existenz unseres Volkes.

Unter dem Vorwand, die HPG und YJA-Star sei dort, droht der türkische Staat Şengal mit einem Angriff. Da sie sich bereits zurückgezogen haben; was würde ein Angriff trotz Ihres Rückzugs bedeuten?

Erdoğan möchte das Osmanische Reich neu entstehen lassen. Deshalb geht es hier nicht nur um die kurdische Bevölkerung. Die Iraner*innen, Araber*innen und sogar das türkische Volk werden ihren Teil abbekommen. Oder wenn wir es aus religiöser Sicht umschreiben wollen: Alle Völker des christlichen, jüdischen, muslimischen, schiitischen oder des dschaferitischen Glaubens sind der Gefahr von Angriffen ausgesetzt. Erdoğan verfolgt mit seiner Zuneigung zu „einer Nation, einem Staat, einer Flagge und einer Religion“ die Absicht, ein neues Osmanisches Imperium aufzubauen. Darum müssen die anderen Völker ebenfalls wachsam sein.

Er brachte den Islamischen Staat nach Kobanê und ließ ihn angreifen. In Kobanê erzielte er keinen Sieg, doch in Efrîn fand der Angriff als Resultat von Abkommen mit internationalen Kräften statt. Efrîn war ein himmlischer Ort. Es gab Gleichberechtigung und Freiheit. Die Völker lebten frei nach ihrem Glauben. Der Islamische Staat und die anderen faschistischen Gruppierungen haben lediglich ihre Kleidung gewechselt. Sie sind es, die [vom türkischen Staat] eingesetzt werden, um die Angriffe auf Efrîn durchführen zu lassen und dort angesiedelt werden. Das, was in Efrîn geschieht, soll nun auch in Şengal getan werden. Mit seinem Handlanger, dem Islamischen Staat hat der türkische Staat es nicht vollbringen können, das ezidische Volk physisch und politisch zu vernichten. Weil die Ezid*innen ihrem Land treu sind, versuchen sie nun, einen weiteren Genozid an ihnen zu vollbringen.

Diese Gefahr besteht jetzt auch noch. Doch sollten der Irak und die anderen Völker der Region die Ezid*innen schützen, werden Erdoğans Pläne zu Staub zerfallen. Es sind die anderen Staaten, die Erdoğan die aggressive Besatzungsposition verschafft haben. Gesetzt den Nationalstaaten bis einschließlich der arabischen Staaten im Mittleren Osten, Iran und anderen Staaten haben sie ihre Finger mit im Spiel. Die Völker und der Irak müssen sich dagegen zur Wehr setzen. Dieses Land ist das Land der Ezid*innen. Erdoğan annektiert die Länder Syriens und des Iraks. Es spielt keine Rolle, wer diese Entscheidungen trifft. Die Völker müssen sich vereinen und diese Gefahr abhängen.