Gök: Die Haft hat mich gestärkt

Enis Berke Gök ist Physik-Student an der Istanbuler Boğaziçi-Universität. Weil er sich der Zwangsverwaltung an der Hochschule widersetzt, saß er drei Monate im Gefängnis. Es sei eine Phase der Stärkung gewesen, der Kampf für eine andere Welt gehe weiter.

Mit den Protesten gegen das an der renommierten Boğaziçi-Universität in Istanbul eingesetzte „Treuhandregime“ von Recep Tayyip Erdoğan und dessen regierungsloyalen Rektoren ist zu einer Zeit, in der die Politisierung des öffentlichen Lebens in der Türkei aufgrund der stetig zunehmenden staatlichen Repression auf dem Tiefpunkt war, eine neue Phase des Widerstands angebrochen. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit die Proteste gegen das Vorhaben Erdoğans, den liberalen Geist kritisch denkender Studierender und Dozierender durch linientreue Zwangsverwalter im Rektorenamt auf Linie zu bringen, ihren Anfang nahmen. Trotz Festnahmen, Razzien und Polizeigewalt halten die Studierendenschaft und nahezu der gesamte Lehrkörper der Hochschule an ihrem Kampf um die Verteidigung der universitären Autonomie fest.

Enis Berke Gök ist einer ihnen. Der Physik-Student gehört zudem zu vierzehn Studierenden seiner Universität, die wegen öffentlichen Aufruhrs und anderer Delikte im Zusammenhang mit einem Protest gegen den ernannten Rektor Naci Inci angeklagt sind. Zusammen mit Caner Pelit Özen verbrachte Gök drei Monate in Untersuchungshaft. Beide wurden beim Prozessauftakt am vorletzten Freitag entlassen. Gegenüber ANF hat Gök sich zu den Umständen seiner Festnahme und den Erfahrungen im Gefängnis geäußert. Die Zeit hinter Gittern habe ihn klarer und entschlossener werden lassen, er sei sogar gestärkt worden. Doch zunächst berichtete Gök von den Geschehnissen am 4. Oktober 2021:

„Es war der erste Tag des neuen Studienjahres. Wir saßen gerade in einer großen Gruppe auf einer Wiese vor der Universität, als der Dienstwagen von Naci Inci vor dem Rektorat vorfuhr. Im nächsten Augenblick gab es spontan ein von Parolen begleitetes Buhkonzert, die Studierenden drängten in Richtung Fahrzeug. Als Naci Inci das Rektorenamt verließ, um zu seinem Wagen zu gelangen, nahmen die Buhrufe, Parolen und auch das Gedränge zu. Ich selbst stand zu dem Zeitpunkt unmittelbar vor dem Auto. Während immer wieder ‚Rücktritt‘ gerufen wurde, umstellten Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes ÖGB schlagartig die Menge am Fahrzeug und gingen zum Angriff über. Ohne Vorwarnung wurde geschubst und zugeschlagen. Mich drückten sie ständig vor das fahrende Auto. Ich war damit in Gefahr, überfahren zu werden. In der Zwickmühle zwischen Schubserei und dem Risiko, überrollt zu werden, setzte ich mich auf die Motorhaube des Fahrzeugs. Da das Gedränge immer noch anhielt, zog ich meine Füße hoch. Der einzige Ausweg aus diesem Chaos war, auf den Wagen zu steigen, dachte ich. Als ich das tat, packte jemand vom Sicherheitsdienst meinen Fuß, ein anderer riss an meinem Arm und ich fiel auf den Betonboden. Darum geht es in dieser Sache.“

„Nach Erdoğans Drohungen ging es los“

Nach einigen Minuten der Unruhe fuhr der Wagen mit Naci Inci davon, etwas anderes geschah an diesem Tag nicht. Erst als Staatspräsident Erdoğan am Folgetag die Studierenden öffentlich diffamierte und auf eine Abschussliste setzte, sei die Lage eskaliert, erinnert sich Enis Berke Gök. Binnen weniger Stunden wurde ein Student der Boğaziçi-Universität von der Polizei zu Hause abgeholt und zur Vernehmung gebracht, zwei weitere wurden auf dem Gelände der Hochschule festgenommen. „Caner Pelit Özen hatte man auf dem Nachhauseweg abgefangen und auf ein Revier gebracht. In dem Moment haben wir begriffen, dass die Lage äußerst ernst ist.“ Gök selbst wurde kurz darauf beim Verlassen des Unterrichtgebäudes unter Gewalteinwirkung von Zivilpolizisten festgenommen und in die berüchtigte Dienststelle Vatan gebracht. Nach einer Nacht in Gewahrsam kamen Gök und Özen ins Gefängnis.

„Die Polizisten schienen überrascht über die Anordnung der Untersuchungshaft. Nach der Entscheidung standen sie einen Moment völlig regungslos vor dem Richter. Dieser fuhr die Beamten mit den Worten an: ‚Auf was wird hier gewartet? Soll ich die beiden etwa selbst wegbringen?‘“

Drohungen und Nacktdurchsuchungen im Gefängnis

Enis Berke Gök und Caner Pelit Özen wurden zunächst in das Gefängnis Metris gebracht. Dort seien beide einer entwürdigenden Nacktdurchsuchung unterzogen worden. Die erste Drohung erhielt Gök bei der Frage nach der Preisliste des Gefängnis-Supermarktes. „Pass‘ bloß auf, sonst kommt du womöglich noch unter die Räder. Ich behalte euch beide im Auge“, habe es geheißen. Die ersten drei Tage in Untersuchungshaft verbrachten Gök und Özen zusammen in einer Einzelzelle. Wegen den verdreckten Decken, die ihnen ausgehändigt wurden, ist Özen an Krätze erkrankt. Er wird deshalb immer noch behandelt. Gök verlor einiges an Körpergewicht, da Anträge auf vegane Ernährung nicht beachtet wurden.

50 Tage in Isolationszellen

Am vierten Tag im Metris-Gefängnis wurden die beiden Studenten in Isolationszellen gesteckt. Gök berichtet: „Unsere Zellen befanden sich nebeneinander. Als wir ankamen, erlebten wir große Solidarität von den Gefangenen in den anderen Zellen. Sie schickten uns Zigaretten und Wasser. Das hat mich tief beeindruckt. Lange Zeit wurde die Herausgabe unserer Lehrbücher verweigert. Perit bekam seine Bücher noch später, weil sie auf Französisch und Osmanisch sind. Alles in allem dauerte es einen ganzen Monat, bis wir anfangen konnten zu lernen. Literarische Bücher durften wir ebenfalls nicht erhalten. Einen Fernseher gab es ohnehin nicht, aber auch Zeitungen bekamen wir nicht zu Gesicht. Briefe, die wir schrieben, wurden auf willkürliche Weise einbehalten. Wir wurden von dem Wächter, der uns bereits am Anfang bedroht hatte, wegen der Briefe unter Druck gesetzt. Mich holte er aus dem Hof und Perit aus der Zelle, um uns zu sagen: ‚Ihr berichtet nach draußen, was hier vor sich geht. Das habt ihr zu unterlassen.‘ Später sprach er mich einzeln an und sagte: ‚Du hast einen Brief geschrieben und darin einige der Dinge erwähnt, die hier geschehen. Wenn du von diesen Dingen sprichst, wird dieser Brief die Kontrolle nicht passieren. Entweder du streichst die Zeilen durch oder wir werden deine Post nicht abschicken.‘ Und genau das ist passiert: der Brief wurde nicht versendet.“

„Festnahmen und Razzien können uns nicht einschüchtern“

Nach einem Schreiben des Justizministeriums wurden die beiden Gefangenen am 50. Tag ihrer Haft von Metris nach Silivri verlegt. Dort teilten sich Gök und Perit eine Zelle, die 24 Stunden am Tag unter Videoüberwachung stand. In Silivri, einem Hochsicherheitsgefängnis westlich von Istanbul, das bekannt für Menschenrechtsverletzungen ist und als Internierungslager für Oppositionelle gilt, wurden die beiden Studenten mit Gewalt zu Zählappellen gezwungen. Man hielt sie in eiskalten Zellen fest, in denen sie häufig erkrankten, aber eine Verlegung auf die Krankenstation erfolgte nicht. Auch bekamen sie kein veganes Essen. Erst am ersten Verhandlungstag lag der Bescheid für vegane Verpflegung vor, doch da war die Haftentlassung bereits beschlossene Sache.  

Gök unterstreicht, seine Inhaftierung habe bezweckt, den Widerstand einzuschüchtern. Er sei aber stärker als zuvor aus dem Gefängnis gekommen, denn er habe das System der Unterdrückung besser verstanden und seine Entschlossenheit zum Kampf dagegen sei gewachsen. Gök spricht von der Kraft, die die Studierenden aus der Parole „Die Festnahmen, die Inhaftierungen, die Repression können uns nicht einschüchtern“ ziehen. Seine Perspektive sei in diesem Sinne durch seinen Gefängnisaufenthalt viel klarer geworden. Über seinen Rechtsbeistand habe er auch von den Solidaritätsaktionen und den Kampagnen seiner Freund:innen gehört. „Jetzt weiß ich, dass ich kämpfen werde, bis eine andere Welt geschaffen wird.“

„Das wichtige ist, gemeinsam zu kämpfen“

Gök kämpft auch in der sozialen Bewegung „Barınamıyoruz“ gegen die schlechten Bedingungen in Wohnheimen und hohe Mieten. Insbesondere die Nachricht vom Suizid des Medizin-Studenten Enes Kara, der von seiner Familie genötigt wurde, in einem Wohnheim eines religiösen Ordens zu leben, habe ihn sehr erschüttert. Die Situation Karas sei kein Einzelfall. Vielen Studierenden gehe es ähnlich, auch wenn kaum darüber berichtet werde. „Es ist furchtbar, während man studiert, ums Überleben oder um ein Dach über dem Kopf kämpfen zu müssen. An einem Ort leben zu müssen, an dem man nicht leben will. Diese Situation macht mich sehr wütend“, sagt Gök. Es gebe aber keine Alternative als den Kampf gegen das Unrecht. „Das System unterdrückt uns mit verschiedensten Mitteln. Sie rauben unser Recht auf Bildung und versuchen die Universitäten zu übernehmen, uns zu assimilieren. Das Wichtige ist zu erkennen, dass wir von demselben staatlichen System und demselben kapitalistischen System ausgebeutet werden, und dass wir gemeinsam und solidarisch dagegen kämpfen müssen.“