Ein Jahr des Widerstands an der Bosporus-Universität

Ein Jahr nach Beginn der Proteste von Studierenden und Lehrenden an der Bosporus-Universität in Istanbul wurde mit einer Kundgebung deutlich gemacht, dass der Widerstand weitergeht. „Das war erst der Anfang“, erklärten die Studierenden.

Zum ersten Jahrestag der Proteste an der Boğaziçi-Universität gegen die Zerschlagung der Hochschulautonomie durch Recep Tayyip Erdoğan sind Studierende am Dienstag im Istanbuler Stadtteil Kadiköy auf die Straße gegangen. Die Kundgebung wurde von einem hohen Polizeiaufgebot begleitet. Neben den Studierenden nahmen auch die HDP-Abgeordneten Züleyha Gülüm und Oya Ersoy sowie weitere solidarische Menschen an der Aktion teil.

Die Aktivist:innen machten mit Transparenten, Schildern und Parolen ihre Forderungen deutlich: „Wir wollen Freiheit. Die Universitäten werden sich mit uns befreien!“, „Alle Zwangsverwalter werden gehen, wir werden bleiben“ und „Wir werden Berke und Perit holen, Naci wegschicken und die Universitäten selbst leiten“, war auf den Spruchbändern zu lesen.

Protest gegen die Zwangsverwaltung

Die Proteste der Studierenden wenden sich hauptsächlich gegen die autoritäre Form der Einsetzung von kommissarischen Rektoren durch den Staatspräsidenten, die in Anspielung auf die linientreuen AKP-Beamten in den kurdischen Kommunen als „Zwangsverwalter“ bezeichnet werden. Zunächst war mit Melih Bulu ein wissenschaftlich ungeeigneter Parteigänger Erdoğans zum Rektor der renommierten Universität ernannt worden. Monatelang protestierten Studierende und der Lehrkörper, kämpften um eine der letzten Bastionen akademischer Freiheit. Statt einzulenken und akademische Argumente ernst zu nehmen, kriminalisierte Erdoğan die kritischen Stimmen als „Terroristen“ und ließ Protestaktionen in Istanbul und anderen Städten gewaltsam niederschlagen. Hunderte Menschen wurden festgenommen, viele wurden durch Gummigeschosse und Tränengas der Polizei verletzt. Einige Studierende berichteten über sexualisierte Gewalt in Polizeigewahrsam, andere landeten in Untersuchungshaft.

Im Juli wurde Melih Bulu schließlich durch ein Dekret des Präsidenten abgesetzt. Doch schon bald darauf setzte Erdoğan den Physiker Naci Inci als neuen Leiter der Boğaziçi-Universität ein, ebenfalls per Dekret. Am 6. Oktober wurden mit Enis Berke Gök und Caner Perit Özen zwei Studenten der Hochschule verhaftet. Sie sollen Inci bei einem Protest anlässlich des Semesterbeginns beleidigt und Schaden an seinem Dienstwagen angerichtet haben. Dieser beläuft sich laut Anklageschrift auf 742,64 Lira, umgerechnet etwa 50 Euro. Außerdem wird ihnen ein Verstoß gegen das türkische Versammlungsgesetz vorgeworfen. Die Festnahmen von Gök und Özen erfolgten nach einer Anzeige Incis, die sich insgesamt gegen vierzehn Studierende richtet. Das Verfahren gegen sie beginnt am Freitag an einem Gericht im Istanbuler Justizpalast Çağlayan.

Das war erst der Anfang, der Kampf geht weiter“

Bei der Kundgebung in Kadiköy forderten die Studierenden die Freilassung von Gök und Özen sowie aller politischer Gefangener, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die Rechtsanwält:innen Barkın Timtik und Selçuk Kozağaçlı sowie Osman Kavala und die schwer erkrankte kurdische Politikerin Aysel Tuğluk.

„Unser Widerstand dauert an und wird weitergehen. Solange das Unrecht andauert, müssen wir laut werden und uns gegenseitig unterstützen. Nur wenn wir weiterkämpfen und auf die Straße gehen, werden alle politischen Gefangenen frei kommen, das Zwangsverwaltersystem zusammenbrechen und die Armut ein Ende haben“, kündigten die Studierenden in einer gemeinsamen Erklärung auf der Kundgebung an. Das erste Jahr des Widerstands sei erst der Anfang gewesen, der Kampf gehe weiter.