Gedenken an Semra Ertan in Hamburg
In Hamburg ist Semra Ertan gedacht worden, die sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus in Deutschland selbst verbrannt hat.
In Hamburg ist Semra Ertan gedacht worden, die sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus in Deutschland selbst verbrannt hat.
Am 24. Mai 1982 verbrannte sich Semra Ertan, eine junge Lyrikerin aus Hamburg, an der Ecke Detlev-Bremer-Straße / Simon-von-Utrecht-Straße auf St. Pauli aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in Deutschland. Sie verstarb zwei Tage später. Nach vielen Jahren des Vergessens haben sich Vertreter*innen verschiedener antirassistischer Initiativen bemüht, Semra Ertans dramatische Aktion auf die Tagesordnung zu bringen. Vielleicht nicht zufällig an einem Tag, an dem die Europawahlen mit einem Ergebnis von mehr als zehn Prozent für eine faschistische Partei einen erstarkenden Rassismus zeigen.
Die gestrige Gedenkveranstaltung war Teil eines umfassendes Rahmenprogramms zum Thema „Gesellschaft der Vielen“, unter anderem mit einem Film von Cana Bilir-Meier, der Nichte von Semra Ertan. Die Künstlerin hat die Familiengeschichte in einem Film aufgegriffen, um Semra Ertans Erfahrungen als Teil einer kollektiven Erinnerung und Geschichte zu verorten. Dieser ist momentan in der Ausstellung Düşler Ülkesi im Kunstverein Hamburg zu sehen.
Heute ist an dem Ort, an dem sich Semra Ertan verbrannt hat, ein Bauzaun. Bald wird hier ein Neubau entstehen. Etwa 200 Menschen aus den verschiedensten Spektren haben sich gestern im Gedenken an Semra Ertan an dem Ort ihrer Aktion versammelt. Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Ibrahim Arslan, einem Überlebenden des Brandanschlages von Mölln. Er begrüßte die Menschen und betonte die Bedeutung von Solidarität. Die Moderation und Übersetzung übernahm Candan Özer Yilmaz, Frau von Attila Özer Yilmaz, einem Überlebendem des Nagelbombenanschlags auf der Kölner Keupstraße 2004.
Nach einer Gedenkminute sprach Zuhal, die Schwester von Semra Ertan. Sie erklärte, dass die Familie in den 1960er Jahren nach Hamburg gekommen sei. Wie viele andere Menschen auch hätten Mitglieder ihrer Familie dreckige Arbeit gemacht, weil hier Arbeitskräfte fehlten. Sie hätten hart gearbeitet, Steuern bezahlt, aber nicht dieselben Rechte gehabt wie die Deutschen. So hätte sie zum Beispiel kein Bafög bekommen. Semra sei angesichts der Ausgrenzung und des Rassismus verzweifelt gewesen, sie wollte ein Licht, einer Fackel sein, gegen blinden Hass und Pogromstimmung. Sie habe bis zum letzten Moment ihres Lebens Gedichte geschrieben. Semra sei wie der Baum in Nazim Hikmets Gedicht gewesen: „Leben - einsam und frei wie ein Baum, geschwisterlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“
Cana Bilir-Meier, die Nichte von Semra Ertan, las einige der 350 Gedichte vor, die sie hinterlassen hat und bald in einem Buch erscheinen sollen.
Im Anschluss sprach Ronja von der Initiative „Gedenken an Semra Ertan“. Sie berichtete, dass Semra ihre Tat angekündigt hatte. Sie hatte zuvor dem NDR und dem ZDF gegenüber ein Statement abgegeben:
„Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles.“
In einem Flugblatt der Initiative heißt es: „Als Reaktion auf das dramatische Zeichen, das Semra Ertan gesetzt hat, sprach der damalige bundesdeutsche Außenminister Genscher von einer ‚Verzweiflungstat, die Mahnung an jeden einzelnen von uns sein sollte‘. Politische Folgen hatte das - wie immer- nicht. Semra Ertan arbeitete als Dolmetscherin und Bauzeichnerin und sie war Schriftstellerin. Sie schrieb über 350 Gedichte, viele auch über die Erfahrungen von Migrant*innen, die Erniedrigungen und die zunehmenden Feindseligkeiten in Deutschland. Ihr Werk ist aber bisher weitgehend unbekannt.
Wir wollen, dass ihre Gedichte, aber auch Semra Ertan als Person sichtbarer Teil unserer Geschichte und unseres andauernden Kampfes gegen Rassismus werden. Wir fordern die Benennung einer Straße nach Semra Ertan. Wir fordern das Anbringen einer Gedenktafel in Erinnerung an Semra Ertan. Wir freuen uns auf alle, die unser Gedenken an Semra Ertan teilen möchten.“
Tonou Mbobda wurde ermordet
Weiterhin sprachen La Toya Manly-Spain von der Black Community in Hamburg über die afrodeutsche Dichterin May Ayim, die sich 1996 das Leben genommen hat. Sie betonte, welch wichtige Rolle May Ayim nach wie vor für die Community habe. Und sie sprach auch über Tonou Mbobda, der am 21. April 2019 durch einen rassistischen und brutalen Übergriff von „Sicherheitskräften“ des Universitätsklinikums Hamburg (UKE) getötet worden ist. Sie berichtete von Zeug*innen, die beobachtet haben, wie Mbobda zusammengeschlagen wurde, weil er sich weigerte, Medikamente zu nehmen, gegen die er allergisch war. Drei Jahre zuvor war Mbobdas Bruder an einer Allergie gegen solche Medikamente gestorben.
„Heilung kommt, wenn wir unsere Verschiedenheit als Vorteil sehen“, sagte Manly-Spain und forderte, den Kampf gegen Rassismus zur alltäglichen Praxis zu machen.
Zahlreiche rassistische Morde in Hamburg
Weiter sprachen Vertreter*innen der Initiative für Süleyman Taşköprü, der am 27. Juni 2001 in Hamburg-Bahrenfeld von der NSU ermordet worden ist. Bis heute hat die Familie kein Wort der Entschuldigung für die Verfolgung durch Behörden und Verfassungsschutz erhalten. Die Familie kämpft dafür, dass die Straße, in der Süleman Taşköprü ermordet wurde, die Schützenstraße in Altona, nach ihm benannt wird.
Erinnert wurde auch an Ramazan Avci, der 1985 von Nazis totgeschlagen worden war, als er gerade von seiner Geburtstagsfeier kam. Der Anwalt Ünal Zeran von der Ramazan-Avci-Initiative erklärte, es sei ein großes Glück, dass die Familie von Semra Ertan so viele Jahre darauf beharrt habe, dass an Semra Ertan erinnert wird, obwohl sie selbst gar nicht in Hamburg lebt.
Ein Vertreter der Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, die 1980 in der Hamburger Halskestraße in Hamburg-Billwerder bei einem rassistischen Brandanschlag der rechtsterroristischen „Deutschen Aktionsgruppen” ermordet worden sind, erklärte, dass die beiden Vietnamesen vermutlich die ersten Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland nach dem Holocaust waren. Die Morde seien Ergebnis der CDU-Kampagne für eine Abschaffung des Asylrechtes gewesen, das inzwischen ja tatsächlich abgeschafft worden sei.
Auch der Bruder von Jaja Diabi richtete einige Worte an die Zuhörer*innen. Jaja sei wegen anderthalb Gramm Marihuana verhaftet und in die Jugendhaftanstalt Hahnöfersand gebracht worden. Nach einem Monat war er tot, angeblich Selbstmord. Abu Diabi erklärte, es sei unerträglich, dass die Gefängnisse voll mit Schwarzen und People of Colour seien, und nicht mit Blauäugigen und Blonden.
Im Anschluss an die Gedenkreden wurden Blumen an dem Bauzaun niedergelegt, auf dem Bilder und ein Gedenkplakat für Semra Ertan hingen. Dann wurde ein Trauerzug zum Jaja-Diabi-Circle am Park Fiction durchgeführt. Hier war Jaja verhaftet worden.
Auf dem Weg zum Hein-Köllisch-Platz wurden die Namen vieler durch Rassismus ermordeter Menschen gerufen. Namen wie Achidi John, Halim Dener, Ahmad Amad, Oury Jalloh und viele weitere. Auf dem Hein-Köllisch-Platz sprach noch einmal Zuhal, die Schwester von Semra Ertan. Sie dankte allen Mitwirkenden und betonte, dass Menschen, die lange hier lebten, keine Ausländer seien, dass sie auch nicht zurückgehen werden, denn sie gehören zu diesem Land. Damit spielte sie auf Semra Ertans bekanntestes Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ an.
Am Schluss sprach der kurdische Journalist Cihad Hammy: „Das kapitalistische System produziert Flüchtlinge und Migrant*innen. Zum Beispiel unterstützt es undemokratische Kräfte und versorgt sie mit Waffen im Mittleren Osten. Zum Beispiel unterstützt die EU die Türkei, die mit deutschen Waffen Rojava angreift und Efrîn besetzt hat. Wir müssen die Hintergründe bekämpfen, die Flüchtlinge und Migrant*innen produzieren.“
Abgeschlossen wurde die berührende und kämpferische Veranstaltung mit einem Zusammensein im Kölibri. Hier hatte am Freitag auch schon ein Konzert des Wiener HipHop-Duos Ezrap stattgefunden. Beeindruckend war für viele Beteiligte, dass sich Initiativen so verschiedener Betroffener zusammengeschlossen haben, um gemeinsam gegen Rassismus zu kämpfen und sich gegenseitig dabei zu stärken.
Solidarität durchbricht das Vergessen. So wird Semra Ertan endlich der Platz in der Geschichte gegeben, der ihr angesichts ihres dramatischen Statements zusteht.